Kapitel 6

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Irgendwas läuft hier falsch. Diese Situation, wie wir hier in der hintersten Ecke der Bibliothek auf dem Boden sitzen. Wie Caleb mich festhält und mir immer wieder sagt dass alles gut sei und ich einfach nicht aufhören kann zu weinen. Das macht keinen Sinn. Sollte nicht er hier sitzen und weinen? Sollte nicht ich ihn trösten? Sollte ich ihn hier sitzen lassen und gehen? Ich weiß nicht was ich machen soll. Ja klar Caleb hat seinen Stiefvater umgebracht, aber irgendwie fühlt es sich nicht so an. Es fühlt sich an als wäre er von selber gestürzt, als hätte Caleb rein gar nichts damit zu tun. Und trotzdem ist da dieser Teil in mir, der mich anfleht aufzustehen, zu gehen und nie wieder ein Wort mit ihm zu reden. Doch der Teil der ihm glaubt, der ihm nicht die Schuld gibt ist stärker und gewinnt. Meine Tränen hören auf und Caleb löst sich von mir. Er rutsch ein Stück zurück und lehnt sich an das Regal hinter ihm. Wir sitzen gegenüber.

"Wie ist das? Mit deinem Vater meine ich. Kommt ihr miteinander klar oder redet ihr kaum miteinander so wie das in Filmen immer ist?" frage ich ihn.

Er sieht zu Boden "Naja, reden tun wir nicht viel. Wir essen auch nicht miteinander. Er weiß was passiert ist und ich glaube, dass er denkt ich hätte Steve absichtlich umgebracht. Er hat so einen Gesichtsausdruck wenn er mich ansieht. So einen der dir direkt sagt, dass du etwas falsch gemacht hast und der dir ganz genau zeigt, dass du hier fehl am Platz bist. Also die beste Stimmung herrscht jetzt nicht gerade im Haus."

Er tut mir leid. Mein Dad war der tollste Dad auf der ganzen Welt. Er ist oft mit mir in den Park gegangen als ich noch kleiner war und dort haben wir dann den ganzen Tag gespielt. Und auch wenn es schon sehr spät war und ich schon längst hätte schlafen gehen müssen sind wir trotzdem noch geblieben. Einmal da haben wir sogar ein Lagerfeuer gemacht und Marshmallows geröstet. Einmal hat er sich bei der Arbeit Krank gemeldet und mich von der Schule befreit nur um mit mir in einen Freizeitpark zu gehen in den ich schon immer mal wollte. Wir hatten so ein tolles Verhältnis und haben viel unternommen. All das hatte Caleb nie. Er hatte keinen richtigen Vater. Gut vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Steve aber dann, dann war seine Kindheit vorbei und er musste so schnell wie möglich erwachsen werden und sich um seine Mom kümmern. Ich glaube ich könnte das nicht, ich würde das nicht aushalten wenn meine Mom Krebs bekommen würde. Jetzt da mein Dad nicht mehr da ist müsste ich das alleine schaukeln und das ist unvorstellbar für mich. Ich wüsste gar nicht was ich tun sollte. Caleb ist so stark und selbstsicher. Ich bewundere ihn wirklich. Dafür dass er so viel durchgemacht hat wirkt er ziemlich gefasst.

"Wie geht's deiner Mom denn jetzt? Rufst du sie manchmal an?"

"Ja, ich rufe sie an. Aber sie fragt mich die ganze zeit wer ich bin und warum ich sie anrufe. Ich versuche dann immer es ihr zu erklären, die Ärzte meinten dass ihr dass helfen könnte, aber es bringt nichts."

Das klingeln der Schulglocke bringt uns zurück in die Realität. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass wir die ganze Freistunde hier gesessen haben. Schweigend machen wir uns auf den Weg zum Klassenraum. Den gesamten weg über redet keiner von uns. Wir schauen auf den Boden und laufen einfach so nebeneinander her. In Gedanken gehe ich unsere Gespräch die ganze zeit durch. Wieder und Wieder. Aber ich komme zu keinem anderen Entschluss dass es nicht seine Schuld war. Ich versuche mir alles Vorzustellen. Wie es passiert ist. Wie das Zimmer aussah. Trotzdem ändert sich meine Sichtweise kein Stückchen.

***

Ein Paar Tage sind vergangen seit meiner Freistunde mit Caleb. Manchmal sind wir uns auf dem Flur begegnet aber geredet haben wir nicht miteinander. Auch während des Unterrichts herrschte Funkstille. Charly hat gleich Training. Ich werde zusehen, weil wir uns den ganzen Tag noch nicht gesehen hatten. Es ist ganz schön kalt für Oktober. Die Tribüne hat auch nicht gerade eine Sitzheizung. Ich fange an meine Hausaufgaben zu machen, als jemand auf mich zukommt. Es ist Caleb. Er kommt direkt auf mich zu, sehr Zielstrebig.

"Hey!" ruft er mir zu.

"Hey." antworte ich, in einer normalen Lautstäre als er etwas näher bei mir ist.

"Was machst du?" will er wissen.

Ich schaue kurz runter auf mein Mathebuch "Ich mache Hausaufgaben. Und du? Brauchst du was? Kann ich dir irgendwie helfen?"

"Nein nein, alles klar bei mir. Kann ich mich zu dir setzen?" er wird leicht rot.

"Ja klar." antworte ich.

Er setz sich und holt seinen Block und einen Stift raus. Und so sitzen wir hier und erledigen unsere Sachen. Da ich langsam mal dringend die Toilette aufsuchen muss, gehe ich rein. Auf dem Rückweg komme ich an der Umkleide vorbei. Mir fällt ein, dass Charly heute einen Hoodie anhatte. Kurzerhand schlüpfe ich in die Umkleide und hole mir besagten Hoodie, ziehe ihn über und gehe wieder raus zu Caleb. Er ist richtig vertieft in das was er tut.

"Was schreibst du da?" frage ich.

Er sieht zu mir auf "Mein Therapeut meinte, dass ich jedes mal, wenn ich an das denken muss was passiert ist, alle Gefühle aufschreiben soll. Und das mache ich gerade."

"Ach so."

Das Training ist vorbei und Charly kommt zu uns auf die Tribüne.

"Na. Was macht das hübscheste Mädchen auf der ganzen Welt gerade?" sagt er und zieht mich an sich und gibt mir eine Kuss.

Ich lächle. Ich finde es schön wenn er so süße Sachen sagt. Das macht er nicht oft.

"Gar nichts. Hab dir zugesehen und meine Hausaufgaben gemacht." antworte ich "Ach ja. Ich weiß ja nicht ob ihr euch schon kennt aber Charly das ist Caleb, er ist neu auf unserer Schule und sitzt neben mir und Caleb das ist Charly er ist seit vier Jahren auf dieser Schule und mein Freund."

"Hi." sagt Caleb.

Charly nickt ihm zu. "Können wir dann? Ich muss mich nur noch schnell umziehen und dann bring ich dich nach hause." sagt er zu mir "Hey, warte mal ist das mein Hoodie?"

Ich sehe an mir herab "Ja, ist es. Ich war in der Umkleide und habe ihn mir geholt weil mir kalt war. Willst du ihn wieder?"

"Ne passt schon. Dir steht er sowieso viel besser und ich habe noch ein Shirt dabei." mit diesen Worten dreht er sich um und geht sich umziehen.

Caleb packt seine Sachen zusammen und steht auf "Alles klar, ich muss dann nach Hause. Viel Spaß euch noch."

"Okay, Danke." ich drücke ihn zum Abschied und dann packe auch ich meine Sachen und warte bei Charlys Auto auf ihn.

RooftopWhere stories live. Discover now