Kapitel 29

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Ich rannte immer weiter. Hinter mir hörte ich Schüsse, die ihren Weg in den tiefschwarzen Nachthimmel fanden. Mein Herz raste und eiskalter Schweiß lief mir den Rücken herunter. Mit jedem Schritt fuhr ein stechender Schmerz durch meinen gesamten Körper und obwohl alles in mir danach schrie, mich hinzusetzen und aufzugeben, rannte ich immer weiter an der Straße entlang. So mussten sich vermutlich Wildtiere fühlen, die gejagt wurden und denen ein sicherer Tod bevorstand. Ein weiterer Schuss flog durch die Luft und hallte durch die dunkle Nacht.

Nur dieses Mal war es anders. Ich sah auf meine Brust hinab und beobachtete den weißen Stoff meines Shirts dabei, wie er sich allmählich blutrot färbte. Ich spürte, wie meine Beine nachgaben, weil sie mein Gewicht nicht mehr tragen konnten. Ich fühlte, wie ich auf die Knie fiel und mir beide Hände kraftvoll auf die Brust drückte, um die Blutung zu stoppen.

Mit röchelndem Atem hob ich den Blick und folgte dem ausgestreckten Arm, an dessen Ende der Lauf einer Pistole ragte. Meine Augen wanderten über die blutverschmierten Ärmel seines weißen Hemdes, über den aufgerissenen Stoff an seiner Brust, über sein Schlüsselbein, welches die Konturen eines Tattoos sichtbar machte bis hin zu seinem Gesicht, das ein diabolisches Grinsen trug – wenn nicht sogar sadistische Freude darin geschrieben stand.

Ich kippte zur Seite um, fiel mit meinem Oberkörper auf den harten Asphalt und wusste, dass nun das Ende gekommen war. Warmes Blut rann meine Brust hinab und stellte sicher, dass der letzte Geruch, den ich in diesem Leben noch wahrnehmen würde, der Metallische meines eigenen Blutes sein würde.

Mit großen Schritten kam der Mann auf mich zu. Ich hörte das Entsichern einer Pistole und schloss die Augen. Es war vorbei, ich würde sterben.


Schreiend fuhr ich aus dem Schlaf. Mir lief der Schweiß den Rücken hinunter und ich keuchte, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Meine Gliedmaßen zitterten unkontrolliert und Tränen liefen über meine Wangen, färbten den hellroten Stoff meiner Bettdecke dunkelrot - blutrot.

In einer Lautstärke, die sicherlich das ganze Haus aufweckte, stolperte mein Bruder in mein Zimmer. Seine Haare waren ein einziges Desaster und er hatte sein Shirt verkehrt herum angezogen. Mit riesigen Augen starrte er mich an, bevor er laut seufzte und sich mit einer Hand durch seine widerspenstigen, hellbraunen Locken fuhr.

»Hast du wieder schlecht geträumt?«, fragte er und setzte er sich neben mich auf mein Bett. Ich wich seinem besorgten Blick aus, da es mir peinlich war, ihn wegen so einer Kleinigkeit zum wiederholten Male aus dem Schlaf gerissen zu haben.

Seitdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sich sein Verhalten mir gegenüber komplett verändert. Anstelle seines genervten Augenrollens musterte er mich jedes Mal, wenn er mich zu Gesicht bekam, mit einem unruhigen Blick – als wäre ich ein Vulkan, der jeden Moment ausbrechen könnte. Verübeln konnte ich es ihm nicht, da ich mich verhielt, als wäre ich gerade erst aus der Nervenheilanstalt entlassen worden.

Wir hatten mittlerweile Ende April und der Vorfall mit Lizzys und meiner Entführung war inzwischen drei Wochen her. Seither fühlte ich mich wie ein Verbrecher auf der Flucht. Ich hatte seit meiner Entlassung keine Nacht mehr ruhig geschlafen und konnte mich kaum entspannen, denn sobald ich die Augen schloss, sah ich den Lauf einer Pistole, der auf mich gerichtet war. Manchmal wurde dieses Bild auch ausgetauscht und machte stattdessen dem einer blutverschmierten Larissa Platz. Jede Nacht sollte ich in meinen Träumen sterben und jede Nacht fuhr ich panisch aus dem Schlaf, da man in seinen eigenen Träumen nicht sterben konnte.

»Leg dich wieder schlafen Noah, es ist nichts. Nur ein blöder Traum«, sagte ich schließlich und legte den Kopf auf meinen Knien ab.

»Sicher? Das ist jede Nacht passiert, seit du wieder hier bist. Du musst doch todmüde sein.« Wie recht er damit hatte. Meine Abschlusstests rückten in greifbare Nähe und ich konnte mich nicht aufs Lernen konzentrieren. Ich war zu einem menschlichen Wrack mutiert, welches nicht mehr leben konnte, ohne von den Bildern der Vergangenheit eingeholt zu werden.

RachegöttinWhere stories live. Discover now