Kapitel 6

15.4K 615 90
                                    

Ziemlich müde und ausgelaugt wanderte ich durch die ausgestorbenen Straßen des Viertels. Wenn man nicht in der Innenstadt von Los Angeles wohnte, dann war die einzige Gestalt, der man um diese Uhrzeit möglicherweise begegnete, eine Katze, die zufällig deinen Weg kreuzte. Es war ruhig, beinahe idyllisch und ausnahmsweise nicht so kalt wie in den letzten Nächten, weshalb ich trotz der recht dünnen Jacke auch nicht fror.

In der Ferne heulten Sirenen, was mitten in der Nacht aber keine Seltenheit war. Trotz der schönen Hollywoodfassade und den traumhaften Stränden mitten am Pazifik hatte Los Angeles, wie jede andere Großstadt auch, mehr Schattenseiten als sie eigentlich zugeben wollte: Diebstahl, Überfälle, Vergewaltigungen und Morde kamen nicht allzu selten vor und ich würde als Mutter nicht ruhig schlafen können, wenn ich wüsste, dass sich meine Tochter oder mein Sohn dort draußen herumtrieb. Jedoch wusste ich genau, welche Ortschaften ich um welche Tageszeit zu meiden hatte und hielt mich brav aus allem, was mir möglicherweise zum Verhängnis werden könnte, heraus.

Hinter mir kam ein Auto um die Ecke gefahren und ich wünschte, dass ich mir doch einen Hoodie angezogen hätte, um so eine Kapuze zu haben, die ich mir hätte über den Kopf ziehen können, sodass man nicht direkt sehen konnte, dass ich ein Mädchen war und allein – ohne eine Menschenseele weit und breit – auf dem Gehweg langlief. Dunkelheit war schon immer eine Sache gewesen, die in mir eine Art unbegründete Paranoia ausgelöste und ich spannte mich so lange an, wie das Auto an mir vorbeifuhr. Einziges Problem war nur, dass der Wagen nicht wie gedacht an mir vorbeirollte und in die Nacht verschwand.

Stattdessen drosselte es sein Tempo, sodass es neben mir herfahren konnte. Möglicherweise war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Panik. Vielleicht gab es dafür eine logische Erklärung wie einen plötzlichen Anruf, den der Fahrer entgegennehmen musste und daher nicht in einem halsbrecherischen Tempo fahren wollte.

Ich beschleunigte meine Schritte und musste zu meinem Erschrecken feststellen, dass der Wagen ebenfalls an Geschwindigkeit zunahm. Ab diesem Moment warf ich alle meine Vorsätze der Ruhe über den Haufen und begann, loszurennen.

Die Reifen quietschten, als der Wagen hinter mir die Verfolgung aufnahm. Natürlich war mir klar, dass ein Auto um einiges schneller war als ich – selbst wenn ich sprinten könnte wie Usain Bolt. Doch ich hatte einen entschiedenen Vorteil gegenüber der Blechkarosse: meine Wendigkeit.

Blitzschnell schlug ich einen Haken und sprintete in die Richtung, aus der ich gekommen war. Sichtlich verwirrt warf der unbekannte Fahrer den Rückwärtsgang ein und brauste hinter mir her. Da wendete ich erneut und hetzte zurück geradeaus, in Richtung einer Kreuzung.

Dem Fahrer schien mein Fluchtversuch nicht wirklich zu gefallen und mir ging langsam, aber sicher die Puste aus, nachdem ich dieses Prozedere eine Weile lang durchgezogen hatte. Selbst meine recht gute Kondition half mir da recht wenig, da ich nicht mit Maschinenkraft, sondern von meinen Muskeln angetrieben wurde und daher einen entscheidenden Nachteil hatte.

Ich rannte über die rote Ampel, als sich mir der Wagen in den Weg stellte. Hätte ich nicht ruckartig angehalten, wäre ich vermutlich gegen die Fahrertür gedonnert oder gar angefahren worden. Die Fahrertür öffnete sich, während ich mich abwandte und weiterrennen wollte.

Der Unbekannte hielt mich jedoch am Arm fest und mein sowieso galoppierendes Herz machte einen zusätzlichen Sprung. Aus einem Reflex heraus drehte ich mich in seinem Griff um und trat mit meinem Fuß hart gegen die Rippen meines Angreifers. Zusätzlich holte ich aus, verpasste dem Typen einen deftigen Schlag ins Gesicht und brachte einige Schritte Abstand zwischen uns.

Er begann zu taumeln und fiel rückwärts gegen sein Auto. Auch wenn ich es vermutlich nicht tun sollte, aber ich fühlte mich gerade extrem cool und mein Auftritt konnte mit denen aus Hollywood sicherlich mithalten. Nur jetzt, wo das Gesicht des Fahrers von den Straßenlaternen beleuchtet wurde, fiel mir auf, dass ich den Jungen vor mir möglicherweise sogar kannte. Diese Vermutung allein hielt mich davon ab, meine Flucht fortzusetzen und beugte mich stattdessen ein Stück nach unten, um sein Aussehen in Augenschein nehmen zu können.

RachegöttinWhere stories live. Discover now