Ja, Mr. Styles

Sechs

Nach etlichen Sekunden der Ungewissheit, taucht eine braunhaarige Gestalt in meiner Zimmertür auf und schaut sich mit einem schnellen Blick in dem kleinen Raum um.

Mein Herz, das für einen Moment völlig außer Kontrolle geschlagen hatte, beruhigt sich sofort und nimmt wieder diese viel zu träge und lustlose Geschwindigkeit der letzten Wochen an. Automatisch spannt sich auch mein Kiefer an, als ich den enttäuschten Laut unterdrücke, der sich einen Weg aus meinem Mund bahnen will.

Sie bemerkt mein Unwohlsein sofort und legt den Kopf schief. "Hey", murmelt V und ringt sich ein Lächeln ab. "Tut mir leid. Ich weiß, dass das jetzt irgendwie komisch ist, wo wir so lang keinen Kontakt mehr hatten, aber ich dachte... naja, nach dem misslungenen Abend von vor ein paar Tagen... du bist zur Zeit wieder in der Stadt und ich bin auch da... vielleicht könnten wir beide mal wieder was machen?" V wirkt, entgegen ihrer sonstigen Natur, etwas unsicher, doch wer könnte ihr das verübeln, denn meine Begrüßung war nicht gerade überschwänglich.

"Klar", presse ich schnell hervor und lächle sie an. Auch wenn ein kleiner Teil von mir darauf gehofft hatte, dass es sich bei dem Besucher um Harry handelt, hatte der Rest bereits gewusst, dass das einfach nicht sein kann. "Tut mir leid, ich hatte mit ... jemand anderem gerechnet."

Mein Bruder erwidert meinen Seitenblick mit zusammen gekniffenen Augen. "Jemand anderem?", fragt er und grinst schelmisch.

"Ja." Meinetwegen. Dann habe ich eben zugegeben, dass ich im Inneren auf Harry gehofft hatte. "Setz dich doch", fügte ich hinzu und zeige auf mein Bett, während Tim aufsteht und V zur Begrüßung kurz drückt. Mit einem Augenzwinkern und einem weiteren wissenden Grinsen in meine Richtung, verschwindet er aus meinem Zimmer.

"Es freut mich ehrlich, dass du vorbei schaust." Und tatsächlich meine ich das auch so. Es ist lang her, seit ich das letzte mal Zeit mit jemand anderem als meinem Bruder verbracht habe.

Doch andererseits ist das auch alles andere als leicht. Ständig versuche ich ein Gleichgewicht zwischen zu naivem und gar keinem Vertrauen meinen Mitmenschen gegenüber zu finden und sehe in jedem einen Heuchler. Auch wenn ich nur ich bin, Hanna Mayer, die Studentin, die die Uni hat sausen lassen, um in die große weite Welt zu ziehen und eigentlich keine besonderen Talente hat, muss ich inzwischen darauf achten, mit wem ich spreche und wem ich meine Sorgen und Probleme anvertraue. Es ist verwirrend und lachhaft zugleich, wie sehr dieser Zeitungsartikel mein Leben und die Art, wie mein Umfeld mich wahr nimmt, verändert hat. Bei meinen neuen Kollegen im Café, in dem ich seit kurzem wieder aushelfe, musste ich bereits des Öfteren feststellen, dass sie immer wieder aufs neue versuchten, das Thema 'Harry Styles' anzuschneiden, als hofften sie auf irgendwelche Insider-Storys. Als warten sie nur darauf, dass sie Informationen oder Geschichten an die Presse verkaufen könnten. Zu meinem Glück hatte unser Chef, Joe, allen verboten, irgendwelche Fotos von mir oder Infos über mich, in den sozialen Medien zu veröffentlichen, da er nicht wollte, dass sein kleines Café überrannt wurde. Dafür war ich ihm sehr dankbar.

Das Misstrauen, welches ich seitdem ich zurück bin, ständig empfinde, ist ein schreckliches Gefühl. Man starrt Fremde an und versucht ihre Blicke oder Gesten zu analysieren, während man sich fragt, was genau hinter einer einfachen Frage oder einem zu langen Augenkontakt steckt.

Doch vor mir sitzt keine Fremde.

Vor mir sitzt V, die mich durch so manche idiotischen Teenager Ideen begleitet hat und mir nie in meinem Leben etwas Böses wollte, oder mir mit irgendetwas weh getan hatte. Während unserer Grundschulzeit und den ersten beiden Jahren auf der Realschule war sie meine engste Vertraute gewesen und hatte mir durch zahlreiche Gemeinheiten meiner Mitschüler beigestanden. Doch auf der anderen Seite, habe ich sehr große Angst davor, ihr, genau aus diesem Grund, zu naiv entgegen zu treten. Angst davor, dass sie sich, wie auch ich, verändert hat und mich vielleicht hintergehen könnte.