12.12

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Rosalie

Ungläubig starrte ich die zwei Jungen vor unserer Wohnungstür an. Ich konnte es einfach nicht fassen, was ich da sah.

»Lässt du uns rein? Das Ding hier wird nicht leichter«, schnaubte Ryan vor Anstrengung. Schnell machte ich den beiden Verrückten Platz, auch wenn ich die ganze Situation immer noch nicht ganz verstand.

»Wir werden eine Menge Ärger bekommen, wenn das jemand herausfindet«, rief ich den beiden hinter her während ich ihnen ins Wohnzimmer folgte.

»Was ist das?«, fragte Holly, die genauso überrascht wirkte wie ich.

»Das sind unsere Freunde, die anscheinend gerne möchten, dass wir unsere Wohnung verlieren«, erklärte ich und beäugte weiterhin den mittelgroßen Tannenbaum, der nun in unserem Wohnzimmer auf dem Fußboden lag.

»Ihr werdet nicht gekündigt«, stellte Ryan klar, woraufhin ich nur skeptisch eine Augenbraue hob. Holly hingegen schienen die möglichen Konsequenzen egal zu sein. Sie war viel zu begeistert über den Weihnachtsbaum, der sich vor ihren Füßen befand.

»Wir haben Helen überredet, dass ihr einen Baum haben dürft«, verkündete Derek stolz.

Helen war die Empfangsdame in unserem Wohnkomplex, ungefähr sechzig Jahre alt und sorgte dafür, dass hier alles mit rechten Dingen zu ging. Außerdem vermutete ich, dass sie eine kleine Schwäche für Ryan hatte, die er heute sehr wahrscheinlich zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte.

»Ihr hättet sehen sollen, wie Ryan sie um den kleinen Finger gewickelt hat«, bestätigte Derek meine Gedanken. »Das war einfach großartig.«

»Das hätte ich nur zu gerne gesehen«, meinte ich und betrachtete immer noch nachdenklich den Baum.

»Habt ihr Zwei bei eurer Tannenbaumaktion eigentlich auch an einen Ständer gedacht und an Schmuck?«, fragte ich neugierig. »Oh daran brauchten wir nicht denken. Holly hat alles da. Stimmt's?« Mit einem Kopfnicken pflichtete Holly ihrem Freund bei und rannte anschließend förmlich in ihr Zimmer. Vermutlich suchte sie jetzt erstmal alles zusammen, was wir für den Baum benötigten.

Wenig später trug sie einen schwer aussehenden Karton ins Wohnzimmer, den Ryan ihr umgehend abnahm. Danach ging sie noch einmal in ihr Zimmer und kehrte kurz darauf mit einem Tannenbaumständer wieder zurück.

Die Jungs stellten den Baum gemeinsam in die Vorrichtung, entfernten dann das Netz, in dem der Baum eingewickelt war und saugten dann sogar unser Wohnzimmer bis nahe zu alle Tannennadeln auf dem Fußboden verschwunden waren.

»Das ist das wohl beste Weihnachtsgeschenk überhaupt«, verkündete Holly bevor sie Ryan um den Hals viel und ihn stürmisch küsste. Ihre Freude war unverkennbar.

»Bekomme ich auch ein Dankeschönkuss?«, fragte Derek als er Ryan und Holly betrachtete.

»Du hältst deine Lippen gefälligst fern von meiner Freundin« In Ryans Stimme klang kein einziger Hauch von Ernsthaftigkeit mit und auch sein freches Grinsen zeugte nicht davon, dass er seine Aussage wirklich ernst gemeint hatte.

»Ich hatte da eher an meine Freundin gedacht«, erklärte Derek und bei den Worten meine Freundin machte mein Herz einen kleinen Hüpfer und mein Magen zog sich zusammen. Lächelnd ging ich zu ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn voller Leidenschaft.

Ich war diesem Kerl ja mal sowas von verfallen. Aber wer konnte es mir übel nehmen. Derek war einfach der Jackpot, dennoch nagte ein dumpfes Gefühl in mir, was ich die letzten Tage versucht hatte so gut es ging zu ignorieren.

»Gut, dann lasst uns loslegen und den Baum schmücken«, verkündete Holly fröhlich.

Es war eine ausgelassene Stimmung. Wir redeten über alles mögliche und irgendwann kamen wir auf das Thema Familie und Weihnachten. Etwas beschämend blickte Ryan zu Boden als wäre es im unangenehm, dass er vor Derek ausgerechnet dieses Thema angeschnitten hatte. Holly und mir ging es da nicht besser. Wir wollten Derek nicht daran erinnern, dass er Weihnachten jedes Jahr ohne seine Eltern verbrachte und doch waren wir genau bei diesem Thema gelandet.

»Ihr tut so als wäre es ein Beinbruch, dass meine Eltern Weihnachten nie da sind.« Kurz hielt Derek inne, atmete einmal kurz durch und begann dann wieder zu sprechen. Seine Stimme klang noch genauso unbeschwert wie vorher und ich konnte keinen einzigen Hauch von Bitterkeit oder Enttäuschung darin feststellen, die seine Worte Lügen gestraft hätte.

»Es gibt einen Grund, warum sie diese Reise jedes Jahr an Weihnachten unternehmen. Es ist ihr Hochzeitstag und in ihrem Beruf kommt es manchmal öfter, manchmal weniger oft vor, dass sie sich nicht sehen können, weil sie in anderen Städten oder so arbeiten. Ihr wisst ja, dass mein Dad Fotograf und meine Mom Model ist, da ist es nicht unbedingt einfach viel Zeit miteinander zu verbringen. Also machen sie jedes Jahr diese Reise. Nur die beiden. Dafür nehmen sie sich an meinem Geburtstag nichts vor und wir drei unternehmen dann immer etwas zusammen.« Er sah mich einen Moment lang aufrichtig an, schnappte sich dann einen weiteren Weihnachtsstern und hing ihn in den Baum.

»Sie sind wirklich tolle Eltern, großartige sogar und dank ihnen kann ich ein relativ unbeschwertes Leben führen. Brauche mir keine Gedanken über Studienkredite und so weiter zu machen. Außerdem weiß ich, dass ich nur einmal etwas sagen müsste damit sie an Weihnachten zu Hause bleiben würden, aber das wäre nicht fair. Sie haben schon so viel für mich getan und das ist meine Art ihnen etwas zurückzugeben.«

Selbst ein Blinder hätte problemlos erkannt, dass Derek seine Eltern über alles liebte und das ihm Weihnachten nicht so viel bedeutete wie es vielleicht für andere Menschen der Fall war. Für ihn waren es nicht die wichtigsten Tage im Jahr und doch verstand er die Bedeutung dieses Festes so viel besser als andere. Es war das Fest der Nächstenliebe und mit seiner wundervollen Geste gegenüber seinen Eltern zeigte er einfach, was er für ein großes Herz hatte.

Würde ihm mein Herz noch nicht gehören, wäre es spätestens jetzt der Fall gewesen. Der Gedanke überraschte mich selber so sehr, dass ich beinahe erschrak. Ich wollte eigentlich nicht, dass irgendein Kerl mein Herz besaß. Es gehörte mir und ich wusste nur zu gut, was passieren konnte, wenn man es jemand anderem gab. Also wollte ich das Risiko wirklich vollends eingehen? Wollte ich Derek tatsächlich so viel Macht über mich geben?

Ich hatte mir einmal geschworen mich nie zu verlieben und doch hatte ich das Gefühl, dass dieses Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Ich war in ihn verliebt, dass war etwas, was ich nicht mehr ändern konnte und auf eine beängstigende Weise auch gar nicht mehr ändern wollte. Aber Liebe war wie eine Blume. Sie konnte so schnell wieder vergehen. Ich hatte es selbst miterlebt, saß quasi in der ersten Reihe und konnte das vollkommene Ausmaß betrachten. Vermutlich steckte ich bereits zu tief drinnen, um überhaupt heil wieder aus der Sache herauszukommen, doch dieser Gedanke konnte das Gefühl in mir nicht trüben, dass ich gerade einen Fehler beging.

»Willst du Samstag mitkommen, wenn ich mit meinen Eltern Essen gehe?« Die Frage riss mich aus meinen Gedanken und sorgte dafür, dass Panik in mir aufkeimte. Wollte er wirklich, dass ich seine Eltern kennenlernte? Das war doch viel zu früh.

Ich fühlte mich so, als ob irgendwer meinen Brustkorb fest umklammerte und immer mehr zu drückte. Nein, ich konnte unmöglich seine Eltern treffen, dass ging einfach nicht.

»Ich würde dich ihnen gerne vorstellen«, sprach er weiter und bekam anscheinend nichts von dem plötzlichen Gefühlschaos mit, dass in mir herrschte.

»Ich kann das nicht«, sagte ich. »Ich kann das einfach nicht. Ich dachte, ich könnte, doch das...«, ich zeigte mit dem Finger abwechselnd auf uns beide. »... das ist zu viel. Ich will das nicht.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und flüchtete aus meiner eigenen Wohnung und vor dem Kerl, der mein Herz schneller schlagen ließ. Wie konnte ich nur denken, dass meine alten Ängste einfach verschwanden, wenn ich nicht mehr daran dachte und sie einfach ignorierte? 

The Christmas DateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt