|Kapitel 45 - Grenzen|

366 33 3
                                    

»Ich bin wirklich abscheulich, nicht wahr?«, frage ich in die Stille hinein, die nur ab und zu vom leisen Tröpfeln des Wassers unterbrochen wird. Ich drehe mich auf den Rücken und fahre mir mit dem Arm erschöpft über die Augen. Ich kann nicht glauben, wie sehr sich mein Leben in nicht einmal zwei Wochen verändert hat. Seitdem ich wieder vollen Zugriff auf meine Erinnerungen habe, fällt es mir zunehmend schwerer an der Gegenwart festzuhalten.
»Auge um Auge. Zahn um Zahn und die Welt erblindet, nicht wahr, Kenshin?« Ein Suefzer entweicht mir schließlich. »Wie verrückt diese Zeit doch ist, in der wir leben. Sie macht uns zu leblosen Hüllen, zu gefühlskalten und einsamen Wesen. Ich wünschte, ich könnte verstehen, was du in mir gesehen hast.«

Ich stehe wieder auf und klopfe mir den Dreck von der Kleidung. Nach dieser kurzen Auszeit fühle mich nun wieder ruhig und gelassen. Nun bin ich bereit, den anderen Gegenüberzutreten, auch wenn ich mich vor den Ausdruck in ihren Augen fürchte.
Ich nehme mein Katana und betrachte einen Augenblick ehrfürchtig die funkelnde Schwertklinge. Der Beweis für Kenshins Vertrauen in mich. Doch das liegt auch schon Jahre in der Vergangenheit.

Mein Gesicht wird reflektiert, doch ich nehme es kaum wahr. »Es ist seltsam. Das Gefühl langsam unsichtbar zu werden und zu verschwinden. Bis ich mich komplett in diese zerstörte Welt einfüge. Ob sich dann wohl noch jemand an mein wahres Ich erinnern wird? An das unschuldige Mädchen, das ich einst war? An das dumme, naive Ding mit all ihren irrsinnigen Träumen und Wünschen.« Ich halte kurz inne und schüttele dann über diesen absurden Gedanken den Kopf. »Was rede ich hier eigentlich? Dafür ist es doch längst zu spät.«

Genau. Es reicht völlig, wenn ich ihre Erwartungen an mich erfülle. Und wenn es bedeutet eine verhasste Einzelgängerin zu sein, dann ist es eben so. Es gibt schlimmeres. Ich lebe immerhin noch. Das ist mehr, als den meisten vergönnt ist.

»Sind alle zum Aufbruch bereit!« Ich lasse es mit Absicht wie einen Befehl und nicht wie eine Frage klingen, als ich zu den anderen stoße. Da kein Widerspruch kommt, nehme ich das als ein Ja. »Gut. Svan, du übernimmst mit Ryan die Führung, da ihr euch am besten hier unten auskennt. Connor und Farrah übernehmen die Mitte und wir beiden übrig gebliebenen bilden die Nachhut.« Ich zeige auf den Kolossalen, dessen Name bisher noch nicht gefallen ist. Er nickt mir zu, ansonsten passiert nichts. Es kommen keine Beschwerden und niemand stellt meine Autorität infrage. Alle raffen wortlos ihre Sachen zusammen und setzen sich in Bewegung. Keiner versucht auch nur mich anzusehen.

Ich frage mich, ob Ryan ihnen irgendetwas über mich erzählt hat, während ich nicht da war. Doch im Grunde spielt das keine Rolle. Sie werden auch nicht anders über mich denken, wenn sie von meiner Vergangenheit wissen. Aber das ist okay. Ich bin es ja nicht anders gewohnt. Vergangenes ist vergangen.

»Hier. Du solltest eine Waffe haben. Wenn du erst wieder an der Oberfläche bist, wirst du sie brauchen.« Der normalerweise so schweigsame Kerl gibt mir seine Pistole und zwinkert verschmitzt. Ich betrachte ihn mit schiefgelegtem Kopf und wünsche mir innerlich, ich hätte Connor gewählt. Der würde sicher seine Klappe halten. Aber wie hätte ich auch wissen sollen, dass das Muskelpaket nicht annähernd so schweigsam ist, wie ich vermutet habe. Wie man sich in Menschen doch täuschen kann. »Was ist?«
»Nichts«, wehre ich ab, woraufhin er nachdenklich an seinem Bart zupft.
»Mmm. Genau das hat meine Frau auch immer gesagt, wenn sie sauer auf mich war. Bis heute verstehe ich nicht, warum ihr Frauen das immer macht. Was ist so schlimm daran, ehrlich zu sein?«

Ich blinzele ihn mehrmals hintereinander an und weiß keine Antwort. Wäre es leichter ehrlich zu sein oder spielt das schon lange keine Rolle mehr? Schließlich zuckt er die Achseln und belässt es dabei - jedenfalls bis wir auf die ersten beleuchteten Tunnel treffen. Das grüne Licht bietet endlich wieder ein gewisses Gefühl an Sicherheit und Vertrautheit. Als sich der Weg in drei Teile gabelt, kenne ich mich endlich wieder aus. Ab hier würde auch ich den Weg zu Lorcan finden.

We are never SafeWhere stories live. Discover now