|Kapitel 4 - Distanz|

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Es fühlt sich so an, als würden Skara und ich uns mit jedem verstreichenden Tag weiter voneinander entfernen. Meine Schwester kann es nicht ertragen einen Menschen mit Schmerzen zu sehen. Damit ist sie das komplette Gegenteil von mir.
Meine Welt besteht aus kalter Gleichgültigkeit. Ich töte niemanden aus Mitleid vor seiner von Krankheiten und Elend geplagten Existenz, sondern weil es mir so aufgetragen wurde. Dabei habe ich einen festen Kodex an dem ich mich streng halte: Niemand wird verschohnt. Und mit niemanden meine ich auch niemanden. Auftrag ist Auftrag. Ich höre auf meine Befehle und nicht auf mein Bauchgefühl.

In dieser Beziehung bin ich gnadenlos. Ich zögere keine Sekunde, wenn es mir das Leben rettet und bin zu Recht das herzlose Monster, für welches ich von meiner Schwester gehalten werde. Meine Heimat ist wirklich Distrikt 2, hier zwischen all den Kriminellen. Ich erträume mir kein anderes Leben, Skara schon.

Denn sie gehört nicht hier her. Meine Schwester ist unschuldig, beinahe noch kindlich naiv. Schon lange weiß ich, dass sie hier niemals überleben würde. Sie gehört als pflichtbewusste Krankenschwester in Distrikt 3, um sich um die verletzten und kranken Menschen zu kümmern. Ihre Wunden zu versorgen, wie sie die meinen immer versorgt.
Doch ich lasse sie nicht gehen. Ich kann es einfach nicht. Skara ist noch viel zu jung, außerdem habe ich meiner Mom ein festes Versprechen gegeben sie für immer zu beschützen. Das ist meine oberste Priorität.

»Wir alle sind Monster«, unterbricht Kenshins tiefe Stimme die erdrückende Stille, was ich mit einem einfachen Nicken quittiere. Das ist nichts das erste Mal, dass er das zu mir sagt und ich weiß auch, dass es der plumpe Beginn einer seiner Moralpredigten ist, auf die ich gut und gerne verzichten kann.
»Wir verloren unsere Menschlichkeit bereits, als wir die lächerliche Entscheidung trafen, uns wie die letzten Feiglinge in diesem Käfig einzusperren - denn nichts anderes ist das hier. Das ist kein sicherer Hafen, nicht unsere Rettung, das hier ist die Hölle auf Erden, umgeben von einem riesigen Meer aus Lügen und permanenter Unterdrückung.«

Während ich mit jedem Wort, was seine schmalen Lippen verlässt, wütender werde, bleibt Kenshins Stimme weiterhin ausdruckslos und entspannt. Ich balle meine Hände zu Fäusten, als ich daran denke, was das unbarmherzige System mir bereits alles angetan hat. Ob er auch so viel hat opfern müssen? Seine dunklen Augen, schweifen nachdenklich in die Ferne, sodass ich sein scharfkantiges Profil betrachten kann.
»Siehst du die klägliche Mauer, die unser armseliges Leben schützen soll?« Es ist eine rein rhetorische Frage, weshalb ich auch nicht darauf antworte.

Er spricht ohnehin weiter, wobei er klingt, als habe er sich bereits vor Jahren mit seinem Schicksal abgefunden.
»Sie wird uns auch nicht helfen können, das Virus zu überleben. Die schmalere in der Innenstadt ebenso wenig. Mauern haben noch nie geholfen.« Irgendetwas in seinen Worten sorgt dafür, dass meine Wut verraucht und lediglich Resignation übrig bleibt.

Fragend ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe, als er sich abrupt zu mir umdreht.
»Ich verstehe nicht, was du mir versuchst zu sagen.«
»Was glaubst du hat mich dazu bewegt, dir die Schwertkunst zu lehren?«
»Was?« Über den plötzlichen Themenwechsel überrascht, bringe ich keine intelligentere Antwort zustande.

»Warum, Lyra?«, fragt er ein weiteres Mal, was ich mit einem Achselzucken quittiere. Er sieht mich skeptisch an, was mich verzweifelt die Hände in die Luft werfen lässt.
»Ich weiß es wirklich nicht. Jede freie Minute denke ich daran, warum du mich nicht einfach hast stehen lassen. Weshalb du uns beiden geholfen hast. Wieso ich ... noch am Leben bin.« Zittrig atme ich aus – die einzige Gefühlsregung die ich bewusst zulasse. Dann habe ich mich wieder fest unter Kontrolle.

We are never SafeWhere stories live. Discover now