|Kapitel 1 - Gefangen|

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Die verzweifelten Schreie der bärtigen Gestalt hallen über den gesamten Hauptplatz von Distrikt 1, als er von zwei kräftigen Männern in brauner Uniform gepackt und achtlos durch den Dreck geschleift wird. Der dürre Mann trägt kein Schuhwerk, sodass sich scharfkantige Steine in seine ungeschützten Fußsohlen graben und das weiche Fleisch aufreißen.

Die kläglichen Versuche des Mannes, sich vor dem Unausweichlichen zu wehren, werden von der umstehenden Menge – überwiegend aus Distrikt 1 und 3 – mit verängstigten Gesichtern und vereinzelten Wimmern kommentiert. Die wenigen anderen schnalzen, im Kontrast dazu, gereizt mit der Zunge oder schütteln verächtlich den Kopf. Ich verstehe sie gut, denn sie sind es mittlerweile leid mit anzusehen, wie jeder Verstoßene dasselbe Theater veranstaltete kurz, bevor er stirbt. Denn es gibt viele, die das Schicksal des mageren Bärtigen geteilt haben, obwohl es keine Statistiken gibt. Zu viele.

Ich wende kopfschüttelnd den Blick ab und bewege mich gezielt durch die Masse, deren gesamte Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor ihnen gerichtet ist. Die Tatsache, dass während dieser Veranstaltung kaum jemand auf seine Umgebung achtete, macht es Menschen wie mir aus Distrikt 2 um einiges leichter unentdeckt zu bleiben. Denn jeder weiß, was einem blüht, sollte man bei dem Versuch jemanden zu bestehlen oder anderweitig das Gesetz zu brechen, erwischt werden. Ich würde mich ebenfalls im Dreck und von zwei kräftigen Wachen gepackt wiederfinden. Doch das wird nicht passieren. Ich schüttele den Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe. Dabei ziehe ich die schwarze Kapuze tiefer in mein Gesicht.

Blitzschnell lasse ich meine Hände in fremde Mäntel und Taschen gleiten, um jeden noch so klitzekleinen Gegenstand zu ergattern, der nur ansatzweise einen Wert besitzen könnte. Dabei wechsele ich permanent die Richtung und reihe mich für kurze Zeit immer wieder unter der verängstigten Bevölkerung und den Personen, die von der Richtigkeit dieser Veranstaltung überzeugt sind, ein. Als die Anschuldigungen des Bärtigen vorgetragen werden, halte ich schließlich inne. Nicht, weil es mich interessiert, sondern, weil es mehr als auffällig ist, wenn ich als einzige weitergehen würde.

»... gewalttätiges Eindringen in den inneren Sektor, Einbruch in eine Versorgungsstation und Diebstahl von Medikamenten. Außerdem ein illegaler Einwanderer in Distrikt 3«, liest ein weiterer Mann in blutroter Robe, der hochtrabend neben dem Beschuldigten herläuft, von einem Schriftstück in seiner Hand vor. Immer wieder sieht er zu der Menschenansammlung und schenkt uns hoheitsvolle und einschüchternde Blicke. Scheißkerl! Am liebsten würde ich diesem arroganten Regierungsmitglied, mein Knie mit voller Wucht zwischen die Beine rammen. Denn nichts anderes hat er verdient.

Dieser Mann hat keine Ahnung, wie es im äußeren Stadtteil zu geht, versteckt er sich doch hinter einer weiteren, schmalen Mauer im inneren Teil. Er weiß nicht, wie es ist, hungrig aufzustehen und genauso hungrig wieder einzuschlafen. Jeden Tag aufs neue, dieses Krampfen im Magen zu spüren und doch nichts Erbrechen zu können. Er weiß nichts von dem Leben hier draußen und er will es auch gar nicht wissen. Die gesamte Regierung interessiert sich nicht für uns und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, solange es ihnen weiterhin an nichts mangelt. Wir sind Abschaum, um den sich niemand mehr zu kümmern braucht und den man getrost sterben lassen kann, da wir nichts vorzuweisen haben.

Wir sind weder nützlich, noch gebildet genug, um eine Arbeit im inneren Sektor auszuführen. Kaum einer im äußeren Ring kann lesen, rechnen und schreiben. Wir sind keine intelligenten Wissenschaftler, die es verdient hätten in den Laboren und Forschungseinrichtungen zu arbeiten, die im Stadtkern zu finden sind. Hier draußen sind wir nichts.
Nicht einmal Distrikt 4, die uns durch Ackerbau mit Nahrung versorgen sollen, sind mehr wert. Sie verbringen ihren ganzen Tag auf Feldern, mühen sich ab und haben letztendlich nichts davon. Der Großteil an Nahrung geht an die innere Stadt, der Rest wird unter den verbliebenen 4 Distrikten streng aufgeteilt.

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