|Kapitel 3 - Verzweiflung|

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»Du bist zu spät«, begrüßt mich die genervte Stimme meiner Schwester, als ich mich durch das geöffnete Fenster ins Wohnzimmer schwinge, oder vielmehr was davon noch übrig ist. Der kleine Raum, bestehend aus einem gelben, abgewetzten Sofa, aus dem vereinzelte Metallfedern hervorstechen und welches an Unbequemlichkeit nicht mehr zu überbieten ist, sowie der schimmelgrüne Teppich auf dem Boden, hat den Namen Wohnzimmer längst nicht mehr verdient. Abgesehen davon, trägt der wackelige Couchtisch und der grüne Plastikstuhl, in welchem es sich Skara bequem gemacht hat, auch nicht zum allgemeinen Wohlbefinden bei.

»Ich wurde aufgehalten. Wie viel hast du?«, komme ich ohne Umschweife zur Sache, ohne auf das vorher Gesagte näher einzugehen. Stattdessen beginne ich routiniert damit, meine Taschen auszuleeren, wobei ich schon im nächsten Moment zweifelnd meine Unterlippe zwischen die Zähne ziehe. Verdammt!

»Nicht viel. Ein halbvolles Feuerzeug, einen Kieselstein und ... das letzte willst du lieber nicht wissen. Ich weiß selbst nicht einmal, was das sein soll«, berichtet sie ernst und deutet auf den kleinen Tisch, dessen eines Bein deutlich kürzer ist, als die übrigen drei. Ich erkenne besagte Gegenstände und rümpfe bei letzterem angewidert die Nase.
»Weißt du was damit anzufangen?«, hakt sie interessiert nach, was mich lediglich die Augen verdrehen lässt.

»Nein«, erwidere ich bestimmt und möchte nicht einmal daran denken, welchem Schwein Skara das aus der Tasche gezogen hat. Ekelhaft.
Mit spitzen Fingern klaube ich das bereits mehrmals benutzte Kondom, welches von seinem Besitzer scheinbar immer wieder aus- und abgewaschen wird oder dergleichen, auf und befördere es im hohen Bogen aus dem Fenster. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen registriere ich, dass der Gummi in dem Blumentopf meiner unerträglichen Nachbarin gelandet ist, die im ersten Stock wohnt und der Meinung ist, selbst die rostige Feuertreppe für sich beanspruchen zu müssen. Letztere bildet den einzigen Zugang zu unserem Wohnhaus, da bereits vor Jahren der Treppenaufgang eingestürzt ist.

»Ich glaube du weißt sehr wohl, was das war«, bemerkt Skara verärgert und stemmt die Hände in die Hüften.
Wäre sie nicht so klein und abgemagert, würde sie wirklich Ehrfurcht erwecken können. So jedoch, weckt sich nur unsagbares Schuldgefühl in mir, dass ich nicht richtig für sie sorgen kann. Ich muss dringend wieder an etwas Essbares gelangen, koste es, was es wolle. Doch in letzter Zeit, scheint niemand mehr etwas wegzuschmeißen oder gar etwas Wertvolles bei sich zu tragen. Außerdem werden die Lebensmittelrationen, welche die Regierung in Distrikt 2 verteilt, jede Woche knapper. Was ich jetzt für ein kleines Stück Brot geben würde ...

Prompt meldet sich wieder dieser nagende Hunger in mir, welcher mir signalisiert, dass ich vor zwei Tagen das letzte halbwegs Nahrhafte zu mir genommen habe. Meiner kleinen Schwester muss es ähnlich gehen, auch, wenn ich dafür sorge, dass sie mehr zu sich nehmen kann. Lieber werde ich verhungern, anstatt dabei zuzusehen, wie sie leidet.
Ich schüttle den Gedanken schnell ab, als Skara fragend eine Augenbraue hebt.

»Ach und wie kommst du darauf, wenn ich fragen darf?«, entgegne ich gelassen und untersuche fieberhaft meine Ausbeute. Ein Knopf, welchen ich scheinbar erst für eine Münze gehalten habe und eine verrostete Schraube kreuzen mein Blickfeld. Beides nicht sehr wertvoll ...
»Sonst hättest du eben nicht so pikiert reagiert«, kommt prompt ihre Antwort, was ich mit einem leisen Seufzen abtue.

»Also, sag schon. Was war das?«
»Nein.«
»Komm schon.«
»Nein.« Eher werde ich mich erschießen, als einer Elfjährigen zu erklären, was ein Kondom ist und wofür man es benutzt. Sie ist immerhin noch ein Kind und soll sich nicht mit solchen Nichtigkeiten auseinandersetzen, selbst wenn sie sich für ihr Alter mehr als erwachsen benimmt.

»Bitte, Lyra«, drängelt sie weiter, was mich langsam wirklich richtig wütend werden lässt. Manchmal da benimmt sie sich wirklich ... eben wie das Kind, was sie ist.
»Nein«, beharre ich streng und ringe um Beherrschung.
»Lyra.«
»Ich habe nein gesagt!«, brause ich auf, bevor ich mich zügeln kann, was dafür sorgt, dass Skara augenblicklich vor mir zurückschreckt. Angst steht deutlich in ihren braunen Augen, wofür ich mich am liebsten schlagen würde. Ich mache meiner Schwester Angst. Verdammt nochmal! Dabei weiß ich doch, wie schreckhaft sie seit dem Vorfall vor knapp einem Monat ist.

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