|Kapitel 25 - Lichtermeer|

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»Spinnst du? Wenn ich es könnte, glaubst du ernsthaft, ich hätte es vorhin dann nicht getan?« Ryan knirscht wütend mit den Zähnen und ich starre ihn ebenso in Grund und Boden.
»Ja, das glaube ich. Denn du schwimmst gerade.«
»Ich tue was?« Meine Stimme ist letztendlich nur noch ein Quietschen, während ich endlich das Offensichtliche zu fassen bekomme. Wie einen Fremdkörper starre ich meine Arme und Beine an, die geschmeidig eine Schwimmbewegung ausführen. Tatsächlich. »Was zum Teufel?« Ich kann es mir nicht erklären. Im äußeren Sektor gibt es keine Gewässer, weshalb ich auch niemals hätte lernen können zu schwimmen. Trotzdem tue ich es. Doch das ist unmöglich, außer ...

Mir wird eiskalt. Die Wassertemperatur scheint binnen Sekunden um mehrere Grad gefallen zu sein, als mir ein vernichtender Gedanke kommt.
»Was verschweigst du mir?« So viel. Ryans Blick ist voller Misstrauen als er meinem begegnet. Mir wird noch kälter. Meine Zähne schlagen klappernd aufeinander.
»Ich muss hier raus«, würge ich ihn ab und schwimme an den Rand, um mich aus dem Becken zu hieven. Meine Bewegungen sind viel zu geübt für einen Anfänger, das ist auch mir klar.
Scheiße!

Das Kleid klebt mir wie eine zweite Haut am Körper, sobald ich aus dem Wasser steige und lässt mich noch mehr frieren. Doch das ist nebensächlich. Denn mir platzt schier der Kopf, so viele unterschiedliche Überlegungen wirbeln wild durcheinander. Ich muss dringend meine Gedanken ordnen, doch wird mir das in dem Chaos nicht so schnell gelingen.

Eine Hand packt meinen Oberarm und hindert mich bestimmt an meinem schnellen Rückzug.
»Warte! Du rennst jetzt nicht einfach davon. Was hatte das gerade eben zu bedeuten?« Ryan zeigt erst auf mich und dann auf das Wasserbecken. »Ich dachte, du kannst nicht schwimmen.« Er klingt vorwurfsvoll. Beinahe so, als hätte ich beabsichtig, dass er mir hinterher springt und mich rettet. Als wäre er hier das Opfer und nicht ich.
»Das dachte ich bis eben auch noch«, gebe ich deshalb bissig zurück und schüttle seine Hand ab. Er blinzelt verwirrt.

»Das verstehe ich nicht.«
»Tja, willkommen im Club. Ich nämlich auch nicht. Dabei sollte man meinen, man erinnert sich an die vielen Schwimmstunden mit seinen Eltern.« Ich klinge fast hysterisch. Das irre Kichern muss ich mir verkneifen.

Ryan sieht mich an, als hätte ich nun vollends den Verstand verloren. Doch dann keimt Wut in seinem Gesicht auf, bevor sich Mitgefühl hinein legt.
»Warte mal. Du erinnerst dich nicht?«
»Nein.« Meine stimme klingt vollkommen tonlos. »Ich erinnere mich an nichts.« Gar nichts!
Zeitgleich mit meinem Verstummen löschen sich alle Lichter im Raum. Trotzdem werden wir nicht in völlige Dunkelheit getaucht. Die vielen bunten Lichter der anderen Gebäude um uns herum dringen durch die Glasfront der Schwimmhalle. Klick. Irgendwas rastet ein. Als würde sich ein lange verloren geglaubtes Puzzleteil an die richtige Stelle schieben. Besser kann ich es nicht beschreiben. Statt gegen die Wand zu stoßen, öffnet sich eine Tür.

Wie in Trance laufe ich zu den Fensterscheiben, an denen das viele Regenwasser bunte Farbschlieren hinabrinnen lässt. Verschiedene Bilder fluten meinen Kopf, von denen ich kaum eines zu fassen bekomme. Nur eins ist unverkennbar klar. Ich öffne die Tür in ein früheres Leben.

Ich habe mich wieder unter dem Bett verkrochen. Das tue ich immer, wenn ich Angst habe. Und ich habe Angst. Verdammt viel Angst sogar.
Mommy und Daddy streiten so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten muss. Meine Unterlippe bent, während die Stimme von meiner Mommy immer schriller wird. Daddy brüllt ebenso wütend zurück.
Schließlich gibt es einen lauten Knall. Jetzt weint Mommy nur noch. Daddy ist wütend davon gestürmt und hat die Tür hinter sich zugeschlagen. Vorsichtig luge ich unter dem Bett hervor. Mommy sitzt schluchzend in der Ecke und hat sich beide Hände vors Gesicht geschlagen. Hinter ihr klatscht der Regen gegen die bunt angestrahlte Fensterscheibe. Ich krieche noch ein weiteres Stück hervor. Mommy soll nicht weinen. Ich will sie umarmen.
»Nein, Lyra. Bleib wo du bist.« Mommy hebt den Kopf und blickt mich direkt an. In ihren braunen Augen steht die nackte Angst, als sie mich zurück unters Bett scheucht. Ich weiß nicht warum sie das tut, bis ich Schritte auf dem Gang höre. Daddy kommt zurück.

»Was ist mit dir?« Ryans dunkle Stimme reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich erkenne seine reflektierte Gestalt in der Fensterscheibe, die sorgenvoll hinter mir aufragt.
»Nichts. I-Ich habe mich nur an etwas erinnert. Glaube ich zumindest«, flüstere ich und halte mir den pochenden Schädel. Kann das wirklich sein? Entspricht das der Realität oder nur meiner Fantasie? Was ist wahr und was nicht? Es ist wirklich zum verrückt werden!
»An was?«, möchte der blonde Mann vorsichtig wissen, was mich dazu veranlasst ihm nicht länger den Rücken zuzuwenden. Seine Miene ist ehrlich und offen, obwohl sich das im farbenprächtigen Licht nur sehr schwer beurteilen lässt.

Ich seufze. Kann ich Ryan wirklich trauen? Wie sicher bin ich mir, dass er auf meiner Seite steht und mich nicht noch ein zweites Mal verrät? Setze ich wirklich alles auf eine Karte?
»Schon gut. Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Ich verstehe das.« Er blickt lächelnd auf mich herunter, da er einen ganzen Kopf größer als ich ist.
»Tatsächlich?«, entschlüpft es mir ungläubig, bevor ich mich zurückhalten kann. Er nickt.

»Ja. Ich muss mich außerdem bei dir entschuldigen. Heute Nachmittag, da hätte ich dich nicht wegschicken sollen. Es tut mir leid.« Und da ist es wieder. Dieses seltsame Gefühl, was Ryan und mich unweigerlich einander näher bringt. Seine Hände haben irgendwie den Weg zu meinen Schultern gefunden, wo sie erneut diese Hitze erzeugen.

»Ich habe mich an meine Kindheit erinnert. An meine Mutter und an Raphael. Ich vermute, dass ich ursprünglich in der inneren Stadt gelebt habe, bevor meine Mom ihn verlassen hat.« Ryan stockt der Atem. Er sieht mich an, als könne er nicht fassen, dass ich ihm freiwillig etwas über mich erzählt habe.
»Heißt das, du bist dir nicht sicher? Als du vorhin sagtest, du könntest dich nicht erinnern, meintest du, dass …«
»Ich kann mich an nichts erinnern, was vor meinem sechsten Lebensjahr liegt. Es ist einfach verschwunden. Als hätte diese Zeit nie existiert«, gestehe ich und Ryans Gesichtsausdruck wird einfühlsam.

»Verstehe. Als ich dich vorhin gesehen habe, wirktest du völlig verloren und aufgelöst. Hat dich diese Erkenntnis so aus der Bahn geworfen?« Mich durchläuft ein Beben, als ich an den wirklichen Grund für meinen Ausbruch denke.
»Nein. Das war es nicht.«
»Was dann?«, fragt er mich und sucht Blickkontakt.
»Sie haben ein Mädchen im Labor. Hemingway hat mich zu ihr geführt«, beginne ich und wringe krampfhaft die Hände. Ryans Hände auf meinen Schultern spannen sich an, doch er lässt mich ausreden.

»Sie … sie ist krank. Infiziert. Die Ärzte geben ihr noch einen Tag, bevor sie zu einem Echo mutiert. Sie sieht schrecklich aus. Doch das alles wäre nur ohne Bedeutung, wenn sie Skara nicht so ähnlich sehen würde. Einen Augenblick dachte ich, sie hätten meine Schwester gefunden und sie müsste sterben.« Und ich hätte ihr nicht helfen können. Nicht, wenn sie infiziert worden wäre. Somit wäre alles umsonst gewesen. Alles.
»Keine Angst, Lyra. Das sind alles nur Psychospielchen der Regierung. Deiner Schwester geht es gut. Sie wissen schließlich nichts von ihr. Im Moment wäre es angebrachter, du würdest dich einmal um dich selbst sorgen und nicht nur um sie«, wispert Ryan andächtig.

Der schmerzvolle Ausdruck in seinen Augen nimmt mich gefangen, als er mir das feuchte Haar aus der Stirn streicht.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, entflieht es mir sofort. Schließlich denke ich jede einzelne Minute an Skara. Wie es ihr geht, ob sie genug Essen hat und ob sich Kenshin gut um sie kümmer. Ob sie mich vermisst … Ich verdränge letzteres noch bevor der Schmerz einsetzen kann. Außerdem lenken mich Ryans Hände ab, die irgendwann das Medaillon um meinem Hals gefunden und geöffnet haben.
»Du scheinst deiner Schwester sehr nahe zu stehen. Skara muss zu dir sehr aufsehen.« Mir krampft das Herz und Tränen treten mir in die Augen, als ich den Kopf schüttele.

»Du liegst falsch. Skara hasst mich aus tiefstem Herzen. Für sie bin ich nichts weiter, als ein Monster mit dem Aussehen ihrer Schwester. Sie fürchtet mich, hat sogar schreckliche Angst vor mir. Und weißt du was? Ich frage mich immer wieder, ob das nicht sogar begründet ist.« Ryan zieht mich abrupt in seine Arme, sodass ich nicht ausweichen kann. Doch das möchte ich auch nicht, sobald er meinen Körper komplett umschließt und mich an sich presst. Ich kann die Wärme spüren, die von ihm ausgeht und fühle mich geborgen. Ein Gefühl, das ich viel zu lange nicht mehr gespürt habe.
»Du bist kein Monster. Du bist wunderbar«, haucht er an mein Ohr und gibt mir die erste liebevolle Umarmung seit Jahren.

Die starke Mauer um meinem Herzen bekommt einen Riss.

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