|Kapitel 23 - Fortschritte|

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Vorsichtig folge ich der Präsidentin. Farang bleibt zu meiner Verwunderung zurück, sodass ich mit ihr allein bin. Hat sie etwa keine Angst, dass ich sie bei dieser großartigen Gelegenheit töte? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so leichtsinnig agiert.
Zwei bullige Männer in schwarzen Anzügen treten uns in den Weg, sobald wir Raphaels Büro verlassen haben. Prompt knickte ich mit diesen halsbrecherischen Schuhen um. Mir reißt der Geduldsfaden und ich kicke die unbrauchbaren Teile zornig in die nächste Ecke. Wer hat so einen Dreck auch erfunden? Die reinste Folter. Ich bin doch nicht so eine verfluchte Puppe, wie diese dämlichen Plastikfiguren, mit denen Skara immer gespielt hat, als sie kleiner war. Mom hatte mir einmal eine geschenkt, als ich sieben war. Das Püppchen hatte keine Woche mit Kopf überlebt.

»Meine Leibwächter«, erklärt die weißblonde Frau mit einem Blick auf die beiden Hünen und sieht großzügig über mein Schuhproblem hinweg. Mit deutlich sicheren Schritten und flankiert von ihrer persönlichen Leibgarde schlagen wir den Weg zur Krankenstation ein. Sieht aus wie in einem normalen Krankenhaus. Geschlossene Türen erstrecken sich jeweils links und rechts vom Hauptgang und sind mit verschiedenen Zahlen beschriftet. So weit so gut.

Doch nichts ist gut! Natürlich nicht. Wir biegen in einen weiteren langgestreckten Flur ein, der vom Hauptgang abzweigt. Mit jedem weiteren Schritt wird es dunkler und ruhiger. Es scheint fast so, als würde der Gang nicht nur jegliches Licht sondern auch alles Leben schlucken. Ein einzelner Mann in weiß kommt uns entgegen. Vermutlich ist er Arzt. Dunkle Ringe zeichnen sich unter seinen Augen ab, die Haut an seinen Wangen wirkt eingefallen und schlaff. Der Mann sieht so erschöpft aus, dass es an ein Wunder grenzt, dass er sich noch auf den Beinen halten kann. Trotzdem verbeugt er sich ehrfürchtig vor der Präsidentin, sobald er sie bemerkt.

»Wie ist die momentane Lage?«, erkundigt sich Hemingway direkt. Der Mann leckt sich nervös die Lippen und schüttelt bedauernd den Kopf.
»Verzeiht, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun. Sein Stadium war bereits zu weit fortgeschritten, sodass wir …« Er verstummt und senkt den Blick, als fürchte er sich vor ihrer Reaktion.
»Nun?« Ihre Stimme klingt unerbittlich und schneidend. Unter ihren Augen zerfällt der Arzt in kleine Stücke.
»Er hat versucht eine Angestellte anzugreifen, sodass uns keine Wahl blieb. W-Wir konnten ihn nur noch eliminieren.« Hemingways Zorn ist mit den Händen greifbar. Ihre Augen gefrieren zu Eis.

»Und Proband zwei?« Der Mann schrumpft zu einem einzigen Häufchen Elend zusammen.
»Sie liegt noch immer auf der Isolierstation. Es geht ihr wieder schlechter. So wie es aussieht, schlägt das Medikament zwar an, bewirkt aber nur eine Verzögerung der Symptome.«
»Wie lange geben Sie ihr noch?« Achselzucken auf Seiten des Arztes.
»Schwer zu sagen. Für eine korrekte Diagnose ist es noch zu früh.« Hemingway schnalzt gereizt mit der Zunge.
»Wie lange noch?«, verlangt sie mit Nachdruck zu wissen. Der Kerl ist kurz davor sich in die Hose zu pissen.
»Achtundvierzig vielleicht auch nur noch dreißig Stunden. Es steht nicht gut um sie.«

Das Staatsoberhaupt scheucht den Mann mit einer einzigen Handbewegung davon. Sie ist stinksauer, bemüht sich aber um eine entspanntere Fassade, als ihr Blick mich streift. Sofort verspannen sich alle Muskeln in meinem Körper, während meine Gedanken kreisen. Ich habe keine Ahnung worüber die beiden gerade gesprochen haben, bin mir aber sicher, dass ich es auch nicht länger wissen möchte. Andererseits bietet sich mir womöglich jetzt eine einmalige Chance, endlich an ein paar Antworten zu gelangen. Innerlich sortiere ich die Fakten. Sie haben eine kranke Person getötet. Die andere scheint in Lebensgefahr zu schweben, aber immerhin noch zu atmen. Das macht es aber nur geringfügig besser. Mich überkommt eine böse Vorahnung, die mir augenblicklich die Kehle zuschnürt. Bitte nicht.

Hemingway scheint mir meine Gedanken am Gesicht abzulesen, denn ihre Mine wird traurig, aber auch hart.
»Komm bitte mit. Es ist besser, du erfährst es so früh wie möglich.«
»Was erfahren?«, würde ich sie am liebsten anschreien, doch die plötzliche Angst lähmt meine Zunge. Mit pochendem Herzen betrete ich hinter der Frau in Blau die Krankenstation. Dabei gleitet eine große Tür mit bestimmt fünf Zentimeter Durchmesser zur Seite.

Es riecht nach Tod, schießt es mir als erstes durch den Kopf, als mir das klinische Weiß in die Augen sticht. Es ist so gleißend hell, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Hektisch blinzele ich und versuche der kurzzeitigen Blindheit so entgegenzuwirken. Der beißende Geruch nach antiseptischen Mitteln, Schweiß und … Blut dringt mir in die Nase, was mich fast würgen lässt. Beinahe rechne ich damit ein Massaker vorzufinden, doch jemand scheint die Schweinerei bereits beseitigt zu haben. Jedenfalls ist alles blitzblank. Die hohen Schuhe der Präsidentin klackern laut über das helle Linoleum. Meine nackten Füße tappsen ihr hinterher.

Aufmerksam betrachte ich meine Umgebung. Jeweils links und rechts von mir erstrecken sich Zimmer hinter Glas. Der Begriff Zelle trifft es aber eher. Ein Krankenbett mit Toilette und Waschbecken sind alles an Einrichtung. Außerdem scheinen sie hermetisch abgeriegelt zu sein und eine eigene Luftzufuhr zu besitzen. Ein gedämpfter Schrei dringt mir an die Ohren, doch sein Ursprung bleibt mir verborgen. Alle Räume sind leer und so weiß, dass ich durch das grelle Licht langsam Kopfschmerzen bekomme.
Zwei Schwestern huschen mit gesenktem Kopf und leise tuschelnd an uns vorbei. Ich glaube Wortfetzen wie »Tod« und »armes Mädchen« zu verstehen, bin mir aber nicht sicher. Es kommt mir seltsam bekannt vor. Irgendetwas kitzelt an meinen Verstand, doch es verschwindet so schnell wie es gekommen ist.

Wir erreichen das letzte Zimmer ganz am Ende des Gangs. Eine Gruppe von Männern und Frauen im Arztkittel stehen unruhig murmelnd zusammen. Unter ihnen erkenne ich auch Ms Bright, die zwischen den wild tuschelnden Ärzten als einzige gefasst wirkt. Trotzdem ist auch sie erschöpft, hat ebenso dunkle Ringe unter den schokoladenbraunen Augen. Sie bemerkt mich als erstes, während der Rest der Belegschaft nur Blicke für ihre Präsidentin übrig haben. Die Menge teilt sich ehrfürchtig, um Hemingway mehr Platz einzuräumen. Sie bringen sie auf den neusten Stand und faseln über medizinische Zeig, was ich nicht verstehe. Ms Bright rutsch unauffällig näher an mich heran.
»Was machst du denn? Du solltest nicht hier sein«, zischt sie leise, doch ich höre ihr nicht zu, um mich über ihr Verhalten zu wundern.

Ich starre wie hypnotisiert in das isolierte Zimmer. Nacktes Grauen erfasst mich, erfüllt jede Zelle meines Körpers und lässt mich beinahe in die Knie gehen. Meine Hand landet haltsuchend an der Glasscheibe.
»Nein«, flüstere ich wie betäubt und mustere das schmutzige blonde Haar des Mädchens. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir auf einem Stuhl aus Metall und trägt nichts als einen einfachen Kittel. Ihre mageren Arme und Beine sind mit einem schwarzen Aderngeflecht bedeckt, die Haut schimmert kränklich weiß und wirkt seltsam brüchig. Und ihr Handgelenk – ich unterdrücke mühevoll ein Schluchzen – ist leer. Sie trägt keine Tätowierung. Nein. Die Größe, die Statur, es würde passen. Nein. Verdammte scheiße, bitte nicht! Nicht sie. Nicht so.

Das blonde Mädchen dreht sich abrupt zu mir um und mein Herz setzt einen Schlag aus. Nein!Verblassende grüne Augen sehen mich kraftlos an, sodass ich nun doch auf die Knie sinke. Meine Hand verkrampft sich fest um das Medaillon. Ein stummes Versprechen an meine Schwester.
»Hilf mir«, murmelt sie hoffnungslos und blickt mich flehentlich an. Ihre Worte brennen sich in mein Gedächtnis. Auch ihr Gesicht ist von den Adern bedeckt, die Lippen sind rissig und aufgeplatzt. Sie ist ohne Zweifel krank. Doch ich kenne ihr Gesicht nicht. Es ist nicht Skara, obwohl sie sich ähneln. Das Mädchen hier habe ich noch nie gesehen.

Eine unendliche Erleichterung überkommt mich, die mit Selbsthass einhergeht. Wie kann ich auch nur eine Sekunde erleichtert sein?
»Hilf mir. Bitte«, haucht die Fremde erneut und erbricht plötzlich einen Schwall Blut. Es tränkt ihren Kittel in ein dunkles Rot, beinahe schwarz. Ihr Blick ist flehend. Sie ist Skara einen Moment so ähnlich, dass ich mir auf die Zunge beißen muss, um nicht zu schreien. Mir splittert das Herz, als ich langsam den Kopf schüttele. Tränen brennen in meinen Augen, doch ich lasse sie nicht zu. Hinter mir höre ich die Ärzte fluchen und sich ruckartig in Bewegung setzen.
»Ich kann nicht«, flüstere ich hilflos, während sich die Augen des Mädchens verdrehen und ihr Körper zu Krampfen anfängt. »Ich kann dir nicht helfen.« Sie röchelt und Blut spritzt gegen das Glas. Es klingt grauenvoll.

Der Anblick dreht mir den Magen um. Mit zitternden Beinen stehe ich auf und weiche zurück. Bittere Galle steigt in mir auf.
Ms Bright packt mich alarmiert am Arm, schleift mich würgend fort und stößt mich durch eine Tür. Keine Sekunde zu spät erreiche ich die Toilette, in die ich mich geräuschvoll erbreche.

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