Kapitel 28 ❀ lâcher

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ALIÉNOR

Nur ein kleiner, unscheinbarer Gedanke hatte mich dazu gebracht, ihn zu küssen. Allein die Berührung seiner Hände mit den meinen hatte ein wundervolles, aufregendes Gefühl in mir ausgelöst; ich hatte mich verstanden gefühlt in allen Problemen und Interessen, die ich besaß.

Seine Lippen waren weich, und ich hatte mich ihm voll und ganz hingegeben, indem ich diesen wundervollen, wenn auch kurzen und falschen Kuss genossen hatte. Jedoch hatte mich Rafaels Erscheinen in die eiskalte Realität zurückgebracht.

„Rafael...", ergriff ich sofort das Wort, während ich merkte, wie mir schlecht wurde. Louis-Antoine trat einen Schritt zurück.

„Bitte hör' einfach auf", erwiderte er kühl, dass es mich schockierte, das er so das Wort an mich richtete. Auch wenn ich nichts anderes verdient hatte. „Sag' mir nur, wie lange schon."

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch keine Worte wollten die Weg über meine Lippen finden. Hilfesuchend schaute ich zu Louis-Antoine, der augenblicklich verstand. „Letzten Sommer, da...–", begann er ebenso ernst, doch Rafael unterbrach ihn: „Ich möchte eine Antwort von Aliénor, nicht von Euch hören, Majestät!"

Diese Worte spuckte er ihm geradezu vor die Füße, desinteressiert daran, dass Louis-Antoine immer noch der Kaiser von Frankreich war, mit dem er in diesem Moment so respektlos sprach.

Wie ich ihn kannte, blieb der Angesprochene erneut ruhig, während sich Rafael von ihm abwandte und mich mit verschränkten Armen anschaute: „Und?"

„W-Wie Seine Majestät schon erwähnte, haben wir uns im letzten Sommer kennengelernt – außerhalb der Feierlichkeiten ohne zu wissen, wer der jeweils andere war. Als bekannt wurde, dass mein Cousin Brienne heiraten sollte, wollten wir den Kontakt abbrechen, jedoch konnten wir beide keinen Schlussstrich ziehen."
Tief atmete ich durch. „Irgendwann... während der Verlobungsfeier kam es schließlich zu dieser einen Nacht..."

„Also hast du, während ich fort war – während ich mich für dich und für ihn in Lebensgefahr begeben und beinahe mein Leben dort gelassen habe – mit ihm gevögelt....?", bemerkte er mit einem gehässigen Unterton und starrte mich an.

„Ich verbiete Ihnen, so mit Aliénor zu re–", setzte sich Louis-Antoine für mich ein, doch der Spanier fiel ihm erneut ins Wort.

„Nun schweigt doch endlich, verdammt nochmal!", knurrte er und ging bedrohlich einen Schritt auf Louis-Antoine zu, ehe er schließlich vor mir halt machte: „Und dann, was habt ihr dann gemacht? Eine Fete gefeiert, während ich fort war, mit ein paar anderen notgeilen Blaublütigen?"

Seine Stimme war hasserfüllt und seine Augen spiegelten pures Ekel wieder, sodass ich schlucken musste: „Nein... Rafael. Dein Tod hat mich mitgenommen. Tag und Nacht habe ich, nachdem ich die Nachricht erhalten habe, geweint und bin danach nach Hause zurückgekehrt. I-Ich konnte nicht mehr ohne dich leben und habe verstanden, was ich eigentlich getan habe..." Meine Stimme brach ab.

„Ach, und als du wieder hier warst, ging das ganze nochmal von vorne los? Wahrscheinlich hast du kalte Füße bekommen, als ich wieder da war und w-warst zu feige, es mir zu sagen!

Jedes Mal, als ich dich gefragt habe, hieß es nur, du würdest ihn hassen. Später warst du plötzlich mit ihm befreundet... und während ich dir vorschlage, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen, hast du noch nicht einmal den Mumm es mir zu sagen und stimmtest einfach zu? Ich habe dich geliebt, Aliénor, dich auf Händen getragen.
Du warst das wichtigste in meinem Leben, das einzige, wozu es sich hier in Frankreich zu kämpfen und zu leben lohnt. D-Doch jetzt... jetzt verstehe ich, dass dies alles nur ein Spiel für dich war..."

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich und seine Stimme wurde träger. „Ich habe den ganzen Palast nach dir abgesucht, nachdem du heute morgen so plötzlich verschwunden bist. Das einzige, was ich wollte, war mit dir zu sprechen... und du... du!"

Die letzten Worte schrie er geradezu heraus und seine Augen füllten sich mit kleinen Tränen, dass er sich von mir anwandte.

„Ich liebe dich doch auch, Rafael", wimmerte ich und strich über seine Wange. „Es war ein Fehler... bitte sag' mir nur, wie ich es wieder gutmachen kann..."

„Pah! Ein Fehler... wieder gutmachen... ", wiederholte er bitter lachend. „Du bist genauso hinterhältig wie deine Schwester. Als sie mir sagte, du hättest etwas mit dem Kaiser von Frankreich gehabt, habe ich ihr vom ersten Moment an nicht geglaubt. Ich sagte ihr, du würdest so etwas niemals tun."

„Du warst bei Brienne?", wollte ich perplex wissen und meine Augen weiteten sich bei seinen Worten. Sie hatte es ihm trotzdem erzählt...

„Ist das nicht vollkommen unwichtig?", fauchte er und blickte mich nun direkt an. „Es ist vorbei, Aliénor. Bleib' doch bei deinem Kaiser – vielleicht als seine Mätresse oder einfach nur zur Dekoration – ich habe dir nichts mehr zu sagen..."

Er drehte sich auf dem Absatz um, worauf ich mit meinem Kleid nach vorne stolperte. „Rafael, nein! Bitte... lass' uns noch einmal von vorne beginnen. Irgendwo weit fort von hier..."
Für eine Millisekunde dachte ich, er würde zustimmen, als er stehen blieb. Jedoch hatte sich seine Meinung keineswegs geändert:


RAFAEL

„Der Gedanke, dass ich so dumm war, darauf reinzufallen, betrübt mich mehr, als du dir vorstellen kannst. Bitte lass' mich einfach in Ruhe. Ich kann deine Ausreden gerade nicht noch weiter ertragen..."
Und schließlich rannte ich. Ich rannte und rannte. Hinaus aus dem Zimmer, hinaus aus diesem Schloss Cheverny. Im Garten dessen machte ich schließlich halt.

Heiße Tränen kullerten über meine Wangen, und die Kälte hatte mir noch nie so wenig ausgemacht wie in dieser Stunde. Kein Schmerz konnte den Meinen übertreffen.

Mein Blick wandte sich zu den noch nicht aufgeblühten Tulpen, die vereist und verdorrt in den Beeten Marie Briennes ihre Köpfe hinunterhingen ließen.

Aliénor war genauso wie eine von ihnen: Ihr damals so gütiges Herz war versteinert und kaputt. So wie das ihrer Schwester, das ihres Bruders, ihrer Tante und ihrem Geliebten, dem Kaiser.
Ich glühte vor Wut aufgrund dieses Mannes, der mir meine Frau genommen hatte. Zugleich musste ich jedoch auch einsehen, dass es eigentlich auch keine Überraschung für mich hätte darstellen sollen.

Ich war ein unwichtiger Sohn eines spanischen Bauern, der sich zwar hochgearbeitet hatte, aber niemals zu ihnen gehören würde. Allein aus dem Grund, da nunmal nicht zu ihnen passte. Viel früher hätte ich dies akzeptieren, und vor allem sehen müssen.

Trotz alledem war mein Herz gebrochen. Wenn ich mich daran erinnerte, was wir alles miteinander durchgestanden hatten... Ich hatte sie getröstet aufgrund des Tods ihres Vaters, hatte ihr in Problemen mit ihrer Schwester beigestanden. Zu guter letzt hatte ich noch befürchtet, ihr beim Liebesakt wegzutun. Und dabei hatte sie bestimmt schon mehr Erfahrung in solchen Dingen, als ich wusste.

Obwohl ich psychisch am Ende war, hatte ich aus dieser Sache eines gelernt: Vertraue niemandem, schon gar nicht all den Adeligen, dem oberen Stand, den besseren Menschen, die nur ihr Geld und ihre Macht vor Augen haben.

So entschloss ich mich, niemals wieder solche Gefühle für eine solche Person zu empfinden, da dies nur Leid und Schmerz verursachte.
Mit eiserner Faust würde ich durchs Leben gehen, für Spanien kämpfen, den Armen und Kranken in meiner Heimat helfen und bei meiner Familie bleiben.

Und zu guter letzt würde ich Aliénor und das alles hier loslassen.






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Übersetzungen

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( TITEL ) Loslassen

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PRINCESS OF TULIPS  ᵗᵉⁱˡ ᶻʷᵉⁱWhere stories live. Discover now