|Kapitel 1 - Gefangen|

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An Distrikt 1, in dem die handwerklich begabten Menschen leben, um das schwarze Ungetüm von Mauer in Schuss zu halten.
Distrikt 3, wo die abgespeckte Version von Ärzten und Krankenschwestern zu Hause ist, die nicht einmal eine einfache Grippe mit ihrer Naturheilkunde in den Griff bekommen würden.
Und letztendlich Distrikt 2, wo die Gesetzlosen und Ausgestoßenen ihr Dasein fristen. Herzlose Diebe, skrupellose Auftragskiller und jegliche andere Art von Abschaum lässt sich dort antreffen. Ich gehöre zum Abschaum.

Als die Schreie des Kerls ohrenbetäubend werden, sehe ich auf. Mittlerweile haben ihn die Wachen bis vor den Metallzaun geschleift, der die große Mauer, in Entfernung von zwei Metern, aus Sicherheitsgründen von innen umgibt. Vier Tore sind in den Zaun eingelassen. Vier Tore für vier Distrikte. Für jeden Hauptplatz einen.

Der letzte Zwischenstopp zum Tod, denke ich und sehe dabei zu, wie das Gittertor mit einem Gänsehaut bereitenden Quietschen beiseite geschoben wird. Auf der anderen Seite stehen bereits weitere Wachen bereit, die nur darauf warten die hagere Gestalt in Empfang zu nehmen.

Der Gesichtsausdruck des Bärtigen ändert sich schlagartig, als ihm sein unausweichliches Schicksal vor Augen geführt wird. Sein Blick nimmt einen wilden Zug an und nackte Panik steht ihm ins Gesicht geschrieben. Brüllend schlägt er um sich, schafft es sogar sich loszureißen und den einen Bewacher in den Dreck zu befördern, doch er kommt keinen Schritt weit. Die Dornen des Elektroschockers graben sich in seinen Rücken und lassen alle Gegenwehr verpuffen. Zuckend bricht der abgemagerte Mann zusammen, wobei ihm das fettige, lange Haar wie ein Vorhang ins Gesicht fällt.
Das Regierungsmitglied in Rot lächelt triumphierend und macht sich bereit die »Zeremonie« zu beenden. Voller Abscheu starre ich ihn an.

»Im Namen von Staatsoberhaupt Hemingway, Präsidentin von Defacity, verhänge ich hiermit die gerechte Strafe, die jedem Gesetzesbrecher zuteil wird. Du«, er zeigt angewidert auf die regungslose Gestalt am Boden, »wurdest von sieben Richtern, dieses Staates für schuldig befunden. Irgendwelche letzten Worte?« Wütend schnaube ich über die Lügen, die seinen Mund verlassen. Niemand, wirklich niemand bekommt einen ehrlichen Gerichtsprozess. Alles nur Trug und Schein, um die Regierung in ein besseres Licht zu rücken und angebliche Demokratie vorzutäuschen. Demokratie. Dieses Wort existiert nicht hinter den Mauern dieser Stadt.

Gerade deshalb wundert es mich auch nicht, dass der Bärtige dem Robenträger verachtend vor die Füße spuckt und ihm rät etwas anatomisch Unmögliches anzustellen. Leider wird ihn sein Kampfgeist nun auch nichts mehr nützen und für letzteres kassiert er prompt einen heftigen Tritt in die Magengrube. Er krümmt sich zusammen und spuckt Blut.
Danach geht alles ganz schnell. Noch bevor alle Umstehenden begreifen können, was geschieht, wird der Mann auch schon hinter den Metallzaun gezerrt. Dieser schließt sich ratternd hinter ihm, als auch schon ein kleineres Tor in der einen Meter dicken Außenmauer geöffnet wird. Der Spalt ist gerade einmal so groß, dass der Mann durch passt.

Mit einem dumpfen Knall und dem metallischen Klirren dutzender Riegel und Schlösser, fällt die Tür auch schon wieder zu, durch die der Bärtige kurz zuvor nach draußen gestoßen wurde. Die Menge hält den Atem an, während das Ratsmitglied mit einem zufriedenen Lächeln auf seine Armbanduhr späht. Es herrscht Totenstille. Alle Augen sind auf das schwarze Ungetüm gerichtet.

Was jetzt unweigerlich folgen wird, weiß ich. Und genau darauf habe ich auch gewartet. Als das ohrenbetäubende Kreischen der Echos erklingt, welches durch die Mauer noch verstärkt wird, habe ich mich bereits erneut in Bewegung gesetzt und fische jeden noch so kleinen Gegenstand aus den Taschen der Leute. Auch, als die Sterbenslaute des verstoßenen Mannes erklingen, der auf der anderen Seite gerade von den Kreaturen vollkommen zerfleischt wird, höre ich nicht damit auf.

Ich habe kein Mitleid mit dem Kerl, der bei dem Versuch jemanden zu retten – womöglich ein Familienmitglied – sein Leben lassen muss. In dieser Welt des Todes ist sich jeder selbst der Nächste. Es ist ein stetiges Spiel mit dem Feuer, die Regierung zu hintergehen. Entweder man ist schlau genug um sich nicht erwischen zu lassen oder man bezahlt seine Dummheit mit dem Tod.
Und gerade letzteres steht auf meiner Wunschliste ganz unten.
Ich muss für meine kleine Schwester sorgen und das kann ich nicht, wenn ich mich um jede hilflose Seele kümmern würde oder bei dem Versuch es zu tun sterbe.

Ich schüttele genervt den Kopf, als ich sehe, wie sich eine Frau an ihren Freund klammert und haltlos schluchzt. Der dunkelhaarige Mann schließt sofort die Arme um die zierliche Dame und flüstert ihr – vermutlich beruhigende – Worte zu, damit sie Ruhe bewahrt. Gereizt schnalze ich mit der Zunge. Wenn die Frau jedes Mal so sensibel reagiert, wird sie nicht mehr lange leben. So viel ist klar. Nur abgestumpfte und gefühlskalte Personen überleben den äußeren Sektor. Alle ehrlichen, emotionalen oder gar hilfsbereiten Lichter verblassen und werden von der Masse aus Dunkelheit gnadenlos verschluckt. Selbst die unfähigen Ärzte aus Distrikt 3 wissen das.

Die verdammte Frau muss mich abgelenkt haben. Anders kann ich mir den Fehler meinerseits nicht erklären, als ich meine Hand in die Manteltasche eines Fremden stecke und grob von ihm am Handgelenk gepackt werde. Er wirbelt herum und ich erkenne sofort meinen Fehler. Distrikt 2!

Nur mühsam unterdrücke ich einen Aufschrei, als der junge Mann, mit Augen so kalt wie Gletscherseen, mir eine messerscharfe Klinge an die Kehle hält. Er trägt ebenfalls einen Umhang mit Kapuze und die Unterseite seines Gesichts ist durch ein Tuch verdeckt, damit er unerkannt bleibt. Ein paar blonde Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn. Ich schlucke schwer und versuche schon im nächsten Moment nach einem Ausweg zu suchen. Das ist immerhin nicht das erste Mal, dass so etwas auf meinen Raubzügen geschieht, weshalb ich routiniert nach meiner eigenen Klinge taste, die ich dem Arsch ins erstbeste Auge rammen kann.

»Ich würde das lassen, wenn ich du wäre«, durchschaut mich der Mann sofort und positioniert sein Gesicht direkt vor meinem, sodass er Einblick unter meine Kapuze erhält. Ein überheblicher Ausdruck liegt in seinen Augen, während ich nicht die kleinste Regung zeige – so wie es mir beigebracht worden ist.
»Außerdem«, geschickt entwendet der Fremde mir das Taschenmesser, wobei er seine Klinge gezwungenermaßen von meiner Kehle nehmen muss und ich die Chance erhalte, mich umzusehen, »würde es dir sowieso nicht mehr helfen. Niemand kann das.«

Wütend knirsche ich mit den Zähnen, während ich stumm dabei zusehe, wie der Fremde mein Messer in seiner Tasche verschwinden lässt. Mein Verstand arbeitet auf Hochtouren. Ich kann keine Hilfe von außen erwarten. Die Menge achtet nur auf das Ratsmitglied, dass seine einstudierte Rede über die Achtung der Gesetze vorträgt und damit einschüchtert. »Noch irgendwelche letzten Worte, bevor du stirbst, Kleine?«, höhnt der Fremde und dreht sich ein Stück mit mir, sodass er die Wachen im Rücken hat. In dem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
»Ja, fahr zur Hölle!« Dann ramme ich ihn mit Wucht mein Knie zwischen die Beine.

Ich habe damit gerechnet, dass der Mann sich zusammengekrümmt auf dem Boden winden würde. Beide Hände fluchend im Schritt vergraben und mit Schweißperlen auf der Stirn. Doch so ist es nicht. Der Fremde sieht meinen Angriff im Bruchteil einer Sekunde voraus und tritt beinahe lässig aus der Gefahrenzone. Mein Hieb geht ins Leere, doch immerhin hat sich der Sandblonde einen Schritt von mir entfernen müssen. Das verschafft mir genug Bewegungsfreiheit, um seinem nächsten Angriff auszuweichen. Statt meine Schläfe zu treffen und mich bewusstlos zu schlagen, streift er nur meine Kapuze. Diese rutscht mir dadurch vom Kopf, doch ich beachte es nicht weiter.

Stattdessen springe ich in die Hocke, um ihm beide Beine weg zutreten. Und tatsächlich, der Mann kann meiner Attacke nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Trotzdem verläuft es nicht wie erhofft. Mein Gegner reagiert blitzschnell und stürzt sich auf mich. Ich kann vor Schreck nicht mehr zur Seite springen. Mit beiden Händen packt er mich an den Schultern und presst mich auf das schleimige und kalte Kopfsteinpflaster.

Der Aufprall presst mir jegliche Luft aus den Lungen und mir wird fast schwarz vor Augen. Nur mühsam kann ich die Bewusstlosigkeit zurückdrängen und wach bleiben. Ich ringe verzweifelt um Atem und höre kaum das Geschrei der Menschen um mich herum, die endlich auf uns aufmerksam geworden sind.
Meine gesamte Konzentration gilt der glänzenden Klinge an meinem Hals und dem Fremden über mir. Dem Mann, der mich aus seinen eiskalten Augen siegessicher anblickt.

»Sieht so aus, als ständen wir wieder am Anfang, nicht wahr?«

We are never SafeWhere stories live. Discover now