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"Vielen Dank", verneigte sich Ryoyu und ging Richtung Tür. Seine Hand war schon auf der Türklinke und er knapp davor zu gehen, als die Ärztin ihn noch aufhielt. 

"Weißt du wo Mona hin ist?"

Ryoyu überlegte kurz, doch schüttelte den Kopf. Sie hat nicht erwähnt, wo sie hingehen wollte. Kobayashi hatte immer noch ein leicht flaues Magengefühl, da sie nicht wirklich fröhlicher gewirkt hat. 

Hätte er die Platine einfach fallen lassen sollen? 

Er wusste nicht, ob er dies mit seinem Gewissen vereinbaren hätte können. Doch sie hat darauf bestanden, was er immer noch nicht wirklich verstand.

Ryoyu ging nun und sah in die leere Notaufnahme. Er schloss die Tür hinter sich und bewegte seinen Daumen leicht, der etwas eingeschränkt vom Verband war. Für diesen Eisspray der Ärztin war er mehr als dankbar gewesen, damit sich seine Haut nicht mehr anfühlte, als würde sie in Flammen stehen. Es könnte eine Narbe bleiben, dies war nicht fixiert, aber es störte Ryoyu auch nicht. Ein kleines Andenken und ein weiteres Überbleibsel einer zu erzählenden Geschichte.

Langsam ging er durch den Flur Richtung Ausgang und hoffte inständig, Mona auf diesem Weg nochmals zu treffen. Er wollte sich verabschieden und sich bedanken. Nicht wie gestern bei der Qualifikation, wo er nichts über seine Lippen gebracht hat. 

"Ryoyu?"

Gerissen aus seiner Gedankenwelt, zuckte er zusammen und sah die mehreren Zentimeter hinab zu der kleinen Person vor ihm. Mit einem schüchternen Lächeln und zwei Pappbecher in der Hand, stand sie vor ihm und wusste nicht wirklich was sie sagen sollte. Hingegen streckte sie ihm einen der beiden Coffee-To-Gos entgegen, die sie schnell in der Cafeteria geholt hat. 

"Ich hoffe du magst Latte."

Etwas verwundert, dennoch erfreut, nahm er den Becher und nippte kurz davon. Mona setzte sich stumm auf einen der beiden Stühle, die sich im Flur für Wartende befanden und nippte ebenfalls von dem nicht mehr so heißen Getränk. Still setzte sich Kobayashi neben sie und schmunzelte; was auch immer ihn dazu veranlasste gerade glücklich zu sein. 
Gestern Abend wäre er am liebsten mit seinem depressiven Gemüt nie wieder aufgewacht und heute wollte er die Notaufnahme kaum mehr verlassen. Würde er dies jemanden erzählen, er würde es ihm nicht glauben. 

Mit einem leichten Seufzer klemmte er vorsichtig den Becher zwischen seine Knie und löste den Ring von seiner linken Hand. Der Verband verklemmte sich immer darunter und dies störte Ryoyu.

Einige Sekunden balancierte er ihn auf seiner Hand, starrte darauf und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er Mona den Ring entgegenhielt. 

"Kannst du gerne haben", gab er kühl von sich und scheute jedem Blick. Die junge Frau hingegen starrte etwas ungläubig auf den Holzring, der mit einem blauen Streifen aus Stein durchzogen war. Ryoyu schmunzelte nur vor sich hin und bestand darauf, dass sie ihn nahm, auch wenn ihm selbst nicht bewusst war, warum. 
Nichts war ihm bewusst, warum er genau in der Situation am heutigen Tage so handelte. 

Mona nahm den Ring vorsichtig zwischen ihre Finger und glaubte nie, dass dieser an ihren Finger passen würde. Aber sie konnte nicht einfach einen Ring annehmen, der ihr nicht gehörte. Schließlich würde sie Ryoyu nie wieder sehen. 

Als würde er ihre Gedanken lesen, stellte er den Kaffeebecher nach einem weiteren Schluck auf den Boden und stahl den Ring aus ihren Fingern. Er nahm sanft ihre Hand und steckte ihn an ihren Mittelfinger, auch wenn er dort noch leicht zu groß war. 

"Du behältst ihn", schloss er ihre Hand mit seinen beiden und sah ihr tief in die Augen, während ihm die Strähnen in die Sicht fielen. 

Was würde er nur alles geben, für mehrere solcher Momente in seinem Leben; aus der Hektik, dem Stress des Profisportlers zu entfliehen.
Noch niemand hatte dies geschafft, mit einem sanften Wimpernschlag.

Mit ihrer zweiten Hand löste sie ein kleines Armband um ihr zartes Handgelenk und hob es an einem Band leicht in die Höhe. Sie schüttelte es kurz und die kleinen Schellen, jede der sechs in einer anderen Farbe bemalt, gaben ein Rascheln von sich. Es klang so lieblich wie das Tanzen von kleinen Engeln. 
Die kleinen Glöckchen waren locker und abwechselnd mit bunten Perlen auf ein blaues Stoffband gewickelt. Es war zart und dünn. Hoffentlich die Bänder lang genug, damit es um Ryoyus Handgelenk passte.

"Damit du in der Luft immer beschützt von Engeln wirst", presste sie ihre Lippen aufeinander und formte diese zu einem Lächeln, sodass ihre Augen glitzerten, wie tausenden Sterne am Himmelszelt. Zaghaft löste er seine Hände um ihre und hielt kurz mit der linken still. Sie band das Armband fest, mit mehreren Knoten und betrachtete es an seinem Handgelenk. Das Blau harmonierte perfekt mit dem Verband.

"Lass uns eine Vereinbarung machen", lächelte er und strich sich seine Strähnen hinter das Ohr, während seine Hand nach dem Becher griff und Mona das aussprach, was sie glaubte in seinen Augen zu lesen. 
"Eine Versicherung, damit wir uns irgendwann wiedersehen?"

Ryoyu verschluckte sich fast und schrammte mit einem Husten daran vorbei. Mona konnte nur lachen, da sie seine Gedanken erraten hat. Ein Heiratsantrag wird es wohl nicht gewesen sein können. 
Er nickte, nahm ihre Hand mit seiner verletzten sanft und sah ihr erneut in die Augen. Die Schuldgefühle standen noch dort geschrieben, die er nicht mehr sehen wollte. Aber auch wie oft er es ihr noch sagte, sie wird ihm nie Glaube schenken; einen Versuch wagte er aber noch. 

"Versprichst du mir etwas?"

Ihr Blick löste sich schwer vom gleisend weißen Verband, der den Arztgeruch in seine Nase steigen ließ, weitgehend vom Kaffeeduft verdrängt. Sie sah auf und visierte nun eine dunkle Strähne seiner Haare an, die ein eigenes Leben führten. Mona nahm sie und legte sie zu den anderen zurückgestrichenen auf seinem Kopf, die jede Sekunde wieder nach vor fallen könnten. 
"Wenn du weinen willst, dann tue es jetzt. Denn ich will mich nicht schuldig fühlen, dich traurig zurückgelassen zu haben."

Ryoyu konnte zusehen, wie die Tränenwände in ihren Augen immer höher wurden und mit ihrem Augenschließen sie über ihr Gesicht flossen. So viel Schmerz schwand aus ihrem Körper, von ihrer Seele nach außen verdrängt. 

Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte nur. Auch wenn sie es hasste, ihre Gefühle schon lange unterdrückte um immer mit einem Lächeln auftreten zu können, scheint es bei Ryoyu nichts zu bewirken, zu lächeln; dieses aufgesetzte Lächeln von der verwundeten Seele und nicht aus dem tiefsten Inneren. 

Er saß nur da, spürte jedes Schluchzen wie einen Schlag durch seinen Körper beben und in seinen Ohren klirrend, wie Schritte durch zerbrochenes Glas. Sie griff nach seiner Hand, klammerte sich an diese und scheint kaum aufhören zu können. Für ihn war es geteilter Schmerz und Erlösung zugleich, als würde er mit ihr diese ganzen Gefühl miterleben.

"Hast du manchmal auch das Gefühl, dass niemand da ist, der dich versteht?", hauchte sie zwischen ihrem Schluchzen hervor und er strich ihr sanft über die dunklen Haare. Dieser ganze Satz klang, als wäre er an Kobayashi maßgeschneidert. 

Viel zu oft fühlte er sich missverstanden von der Welt, seinen Mitmenschen. Sein Tatendrang wurde niedergedrückt durch das System, denn er wollte mehr als nur die hinteren Plätze belegen. Auch wenn die Trainer sagten, er wäre in den Top 20 immer gut dabei, wollte Ryoyu auf das Podest. Es scheint, als würde sein Training nichts bewirken und er bekam von der Weltspitze meist die Nase vor der Tür zugeknallt. Er verstand was Mona meinte, jedes einzelne Wort.

"Sieh' den Ring als Zeichen, dass jemand da ist, der dich versteht. Nur eben ein paar Kilometer entfernt", strich er über den glänzenden Ring an ihrem Finger und entlockte ihr ein kurzes Lächeln. Auch wenn er es nicht sah, spürte er die Wärme die von ihr jedes Mal ausging, wenn sie strahlte. Einen Wärme, die ihn süchtig werden ließ.



[ryoyu kobayashi] etānitīWhere stories live. Discover now