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Kento saß im Schneidersitz auf seinem Bett und begann sich durch mehrere Packungsbeilagen zu forsten. Auf der Bettdecke herrschte ein heilloses Chaos aus Zetteln und Tablettenreihen, die er alle in den nächsten Tagen in seinem Magen vernichten sollte. 

Er schnaubte amüsiert und sah nach draußen. Erneut spielten sich die Szenen von der Straße in seinem Kopf ab und er konnte es nicht wirklich glauben. So schnell war Ryoyu noch nie gesprungen, um einen Gegenstand vor dem Aufkommen zu hindern. Und sie haben so verdammt vertraut gewirkt.

Das Klingeln eines Smartphones riss ihn aus seinen Gedanken und er starrte verwirrt auf das  Beilagengewirr. Irgendwo darunter müsste sich das Gesuchte befinden, worauf er alles wild zur Seite kramte und das iPhone nun erschien. Im letzten Moment hob er ab und hatte Junshiro in der Leitung. Er erkundigte sich um das Befinden des Freundes, sowie über den derzeitigen Standpunkt. Das Training wurde für Vormittag abgesagt und somit könnten sie Ryoyu und Kento auf dem Rückweg vom Krankenhaus mitnehmen. 

"Ich bin im Hotel, Ryoyu aber nicht", lachte Sakuyama kurz und sprang vom Bett auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er wollte die heutige Tablettenration noch vor dem Mittagessen in seinem Magen haben. 

"Wie, Ryoyu ist nicht im Hotel", klang die Stimme des Bruders fragwürdig. Kento erklärte ihm, welchen Vorfall sie erlebt hätten, verriet aber nicht, dass es sich bei der vertrauten Person um eine Frau handelte. Erst gestern hat Ryoyu sehr sentimental auf das Thema reagiert, weswegen es wohl besser wäre, wenn die Brüder dies selbst beredeten.

"Ryoyu müsste noch im Krankenhaus sein."

Immer wieder rauschte sanfter Wind an ihm vorbei. Die Umgebung war nicht besonders warm, aber auch nicht kalt, um dadurch frösteln zu müssen. Warme Sonnenstrahlen kitzelten auf seinem Handrücken und seiner Nasenspitze und erwärmten seine Strähnen. 

"Ist das wirklich eine gute Idee?", zweifelte er nun am Einfallsreichtum von Mona, die ihre Lösung, Ryoyu in die Notaufnahme ohne Ohnmachtsanfall zu bekommen, eigentlich für gut empfand. Er lächelte schon den ganzen Weg, was wohl ein gutes Zeichen sein müsste. 

"Lüg' mich nicht an", zog sie etwas fest an seiner Hand und veranlasste ihn, durch die Überraschung über seine eigenen Füße zu stolpern, sich aber noch knapp selbst auf den Beinen halten konnte. "Du lächelst Ryoyu."

Seine freie Hand fuhr an seinen Mund, als würde er es selbst nicht glauben, nicht spüren dass sich seine Gesichtsmuskeln zu so einer Mimik entschieden hatten. Und alleine die Berührung und Realisierung ließ ihn noch breiter strahlen. 

Ohne Widerrede hat Mona ihm ihren Schal vor die Augen gebunden und ihn blind durch das halbe Krankenhaus geführt. Zwar mit ein paar schrägen Blicken von Ärzten, Schwestern und Patienten, aber es scheint zu funktionieren.
Er legte sein Vertrauen in ihre Hände, so hatte er es gesagt, bevor er den ersten Schritt blind gewagt hatte. Die Hand von Mona hatte sich fest um die von Ryoyu geschlungen und machte ihm mit einem kurzen Drücken immer klar, dass er stehenbleiben musste. Es funktionierte perfekt. 

"Ist dein Vertrauen so schnell verschwunden?"

"Interpretierst du meine Worte falsch?"

Mona blieb kurz verdattert stehen und schaffte es, dass Ryoyu geradewegs in sie hineinrannte. Im letzten Moment griffen seine Hände in die Gegend, wo er ihre Schultern erwartete und hielt sie fest.

"Danke", hauchte sie etwas erschrocken hervor und nahm seine Hand, um die letzten Schritte zu bewältigen. Es war gut, dass er die selbstgebastelte Augenbinde trug und somit ihre glühenden Wangen nicht erkannte. Dies wäre ihr nun peinlich. 

In der Notaufnahme angekommen, half sie Ryoyu sich zu setzen, der sich nun den Schal von den Augen nahm, doch die Lider geschlossen hatte. Mona bat ihn, kurz zu warten. 

Sie hastete, nach dem kurzen Blick auf die Wanduhr über dem Fenster der Empfangsdame, auf die Tür 2 zu und klopfte dort. Nach dem kurzen Herein, steckte sie den Kopf durch den kleinen eröffneten Spalt und lächelte der Person, die dort am Schreibtisch saß und Berichte abtippte, zu, bevor sie eintrat.

"Du bist heute später dran", erhob sich die ältere Frau und stand auf. Ihre Hand griff zur Seite und tauschte den weißen Doktorkittel gegen den Wintermantel, der auf einem kleinen Garderobenständer hing. 

"Ich weiß", murmelte Mona hervor und senkte den Blick. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie es ihrer Mutter erklären sollte. "Ich habe einen Patienten für dich."

Etwas verwundert, sah die Ärztin ihre Tochter an, da sie nicht wirklich verstand, was passiert war. Mona war unversehrt, keine Kratzer im Gesicht und laufen konnte sie offensichtlich auch noch. Also müsste ihren Freunden etwas passiert sein. 

"Was hast du angestellt, Mona Emilia Sommerer." 

Die Hand mit dem Mantel senkte sich und der Doktorkittel wurde wieder angelegt. Mona huschte in den Raum und deutete ihrer Mutter näher zu kommen. Beide klammerten die Hände an die Türkante und sahen gerade in Richtung Ryoyu, der immer noch seelenruhig da saß und wartete.

"Meine Platine ist auf dem Weg zum Krankenhaus überhitzt und ich wollte sie ausbauen, bin ausgerutscht und..."

"Ryoyu Kobayashi? Was hast du mit Ryoyu zu tun", unterbrach sie ihre Mutter und die Augen wurden immer größer. Heute am Vormittag hatte sie, auf Bitten des japanischen Skisprung-Mannschaftsarztes einen der Athleten durchgecheckt. Die beiden Ärzte haben sich während des Trainingslagers in Innsbruck kennengelernt, als Monas Mutter noch jung und damals bei den ÖSV-Adlern als unterstützende Kraft ausgeholfen hat. 

"Das erkläre ich dir später", seufzte Mona und richtete sich auf, um jeden Moment Ryoyu zu holen. "Er hat sich an meiner Platine verbrannt und das nicht nur leicht."

Ohne auf eine Antwort ihrer Mutter zu warten, ging Mona aus dem Zimmer und steuerte auf Kobayashi zu. Sie spürte die fragwürdigen Blicke ihrer Mutter, die auf ihr lasteten und tippte Ryoyu vorsichtig auf die Schulter. 
"Du kannst die Augen aufmachen. Es sind kaum Leute hier."

Langsam öffnete er ein Auge und sah etwas um sich, bevor auch das zweite geöffnet wurde und sie ihn bat, mit ihr mitzukommen.

"Wo gehen wir hin?", rührte er keinen Muskel und bestand fast darauf, zu erfahren in welches Zimmer sie ihn schleppte. Er schämte sich einerseits für diesen verbissenen Angstinstinkt, doch er konnte nichts dagegen tun. 

"Zu einer Wunderheilerin. Jetzt komm'."

Mit einem leichten Lächeln sprang er auf und folgte Mona, die nur die Nasenspitze ihrer Mutter aus dem Türspalt verschwinden sah. 
Als die beiden nun ins Zimmer kamen, räusperte sie sich und begrüßte Ryoyu, der nur lachen konnte. Anscheinend hatte Mona etwas nicht mitbekommen. 

"Bitte setzen Sie sich", wurde er aufgefordert und ließ sich auf dem Untersuchungstisch nieder, während Mona sich den runden Stuhl auf Rollen näher zog und sich etwas versetzt vor Ryoyu niederließ. Diese begann nun langsam zu grübeln, doch kam auf keine Idee, weswegen sie den jungen Skispringer kennen könnte. Er hat sich gestern doch nicht noch verletzt und war in die Notaufnahme geliefert worden?

"Ryoyu und sein Freund sind heute Vormittag bei mir gewesen", erklärte nun die Ärztin auf das fragende Gesicht ihrer Tochter, die sie etwas verwundert ansah. Alleine der Blick der Mutter war ausschlaggebend dafür, dass die komplette Heimfahrt mit Gespräche gespickt war, die Mona nicht hören wollte. Das lange Gerede von der schlechtesten Beziehungsart, die Fernbeziehung. Obwohl ihre Mutter da nicht laut werden darf, da sie ja selbst eine zehnjährige Fernbeziehung geführt hat. Monas Vater kam aus einer kleinen Stadt, am anderen Ende von Österreich. 
Aber Ryoyu war nicht da, um ihr neuer Freund zu werden. Er war freundlich und liebenswert. Er wird ein guter Freund werden, den sie auch um Mitternacht mit einem Telefonat aus den Federn reißen konnte, würde es ihr schlecht gehen. Er wird nicht mehr werden und hoffentlich auch nicht weniger. 

Wie ein unschuldiges Kindergartenkind, welchem eine Tat angehängt wurde, die es nicht begangen hat, streckte er der nun vor ihm sitzenden Ärztin die Hand entgegen. Mona gab die Utensilien zu und musste das Verlangen unterdrücken, bei jeder erneut verzogenen Miene seiner Seite, nicht seine Hand zu nehmen.

Nachdem es nur mehr daran lag, den Verband anzulegen, entschuldigte sich Mona kurz und verschwand. Sie musste etwas erledigen, um ihr Gemüt zu besänftigen. Ihre inneren Schuldgefühle niederlegen zu können.

[ryoyu kobayashi] etānitīWhere stories live. Discover now