#33 Happy New Year

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Hoseoks P.o.V.

Ich öffne die Tür zum Balkon. In der ganzen Zeit, die ich hier verbracht habe, bin ich dort nicht ein einziges Mal rausgegangen. Warum? Ich weiß es nicht.

Kalte, klare Luft schlägt mir entgegen und sofort überzieht eine Gänsehaut meine Arme. Ich schiebe den Rollstuhl nach draußen und ziehe die Tür hinter mir zu.

Hier draußen ist es still, kein Geräusch dringt zu mir durch. Der dumpfe Lärm und die träge Geschäftigkeit sind eingesperrt, während ich hier draußen bin, allein, für mich. Sie kommen nicht an mich heran. Ich könnte gehen wohin ich will.

Ich schaue zum schwarzen Himmel hinauf. Ein paar helle Punkte zieren die dunkle Decke wie Perlen auf schwerem Samt.

Nicht mehr lang, und die Dunkelheit wird von unzähligen Farben zerrissen werden. Farben und Licht werden sich wie eine Flut darüber ergießen und die Nacht für kurze Zeit vertreiben. Und darauf warte ich.

Ich atme die kalte Luft tief ein, genieße die Stille und warte auf Mitternacht. In meiner Hand fühle ich das kühle Metall der kleinen Uhr, die mir Taehyung gegeben hat. Wie er darauf kam, mir eine Taschenuhr zu schenken, weiß ich bis heute nicht, aber sie ist wunderschön und bedeutet mir viel.

Ich klappe die Uhr auf und fahre mit den Fingern über das glatte Uhrglas. Es sind noch sechs Minuten bis Mitternacht. Einen Augenblick lausche ich dem leisen Ticken der Uhr, bevor ich sie zuklappe und in die Hosentasche gleiten lasse.

Diese Uhr erinnert mich nicht nur an Taehyung, sondern auch an Weihnachten. Und ich erinnere mich gern an Weihnachten. Es ist zwar noch nicht lange her, aber trotzdem sind die Erinnerungen daran mir unglaublich wertvoll.

An dem Tag, als Jimin mich im Schwimmbad abfing, fing die ganze Geschichte an. Er brachte mich zuerst dazu, die Schmerzmittel senken zu lassen, um zu sehen, ob ich ohne klarkomme. Und siehe da, es ging mir ohne die Medikamente sogar besser.

Dann begannen wir, aus der Idee, die Jimin zusammen mit Taehyungs Mitbewohner Jungkook, der mir ein paar Tage später vorgestellt wurde, hatte, Nägel mit Köpfen zu machen. Es sollte ein Geheimnis bleiben, bis zum letzten Tag. Um ehrlich zu sein, muss ich sagen, ich hätte nicht gedacht, dass Jungkook so lange dicht hält.

Als wir die Sache dann tatsächlich durchbekommen haben, samt dem 'Okay' der Ärzte und allem drum und dran, waren wir alle drei in Hochstimmung. Dann hieß es nur noch: warten auf Weihnachten.

Während der elendigen Warterei hatte ich aber noch andere Probleme. Meine Prothese sollte - und soll immer noch - angepasst werden. Eigentlich freue ich mich darauf, vielleicht bald wieder laufen zu können, aber ich will das nicht allein machen. Auf den Vorschlag hin, Doktor Choi oder eine von den Schnepfen könnte mich ja begleiten, bin ich nur noch sturer geworden. Entweder mit ihm oder ohne mich.

Ich verdränge den Gedanken an die ewigen Diskussionen und denke lieber wieder an Weihnachten. Jungkook hat uns mehr oder weniger gezwungen, alle möglichen Gesellschaftsspiele zu spielen, was im Endeffekt dann aber doch ganz lustig wurde. Je später es wurde, desto ausgelassener wurden wir - und es wurde richtig spät, wobei der Punsch sein Übriges tat.

Letztendlich wurde es so spät und so viel Punsch, dass Jimin und ich beschlossen, bei Taehyung und Jungkook zu übernachten. Jimin rief also im Krankenhaus an, versicherte - in einem leichten Singsang- , dass es uns allen bestens ginge und er mich morgen zurückbringen würde. Dann errichteten wir im Wohnzimmer zwei Schlaflager - eines auf der Couch, eines auf einer Luftmatratze -, eine Aktion, die letzten Endes in einer wilden Kissenschlacht und einem mittelschweren Chaos endete.

Schließlich bezogen wir aber alle ziemlich erschlagen, aber glücklich, unsere Schlafposten, ich auf dem Sofa, Jimin auf dem Boden und die anderen in ihren Betten, wobei ich hätte schwören können, dass Jimin später aus seinem Bett verschwand und nicht wieder kam. Vielleicht hab' ich das aber auch bloß geträumt - oder er war schlicht und einfach auf dem Klo.

Seit langem war ich richtig glücklich. Ich habe gemerkt, dass ich richtige Freunde habe; Freunde, die alles auf den Kopf stellen, um die, die ihnen wichtig sind, glücklich zu machen. Die drei nehmen mich, wie ich bin, es fällt kein Kommentar über mein fehlendes Bein oder den Rollstuhl, was ich kann, kann ich, und was nicht, eben nicht. Keiner von ihnen behandelt mich wie ein unfähiges Kleinkind oder überschüttet mich mit Mitleid. Und das ist gut so, denn dann fühle ich mich vollkommen normal. Genau das ist auch etwas, was mir meinen neuen Freunde klargemacht haben. Ich bin normal. Genauso normal wie sie auch, auch wenn das bedeutet, überhaupt nicht und kein Stück normal zu sein. Aber was ist schon normal?

Ich höre meine Zimmertür aufgehen. Dann die Stimme einer Schwester: "Hallo? Hoseok?"

Ohne mich umzudrehen rufe ich zurück: "Ich bin draußen. Es ist alles bestens."

Kurz darauf geht die Balkontür auf. "Sie sollten eine Jacke anziehen. Am Ende werden Sie noch krank, und das wäre doch fatal, bei Ihrem guten Fortschritt.", säuselt sie.

"Das geht schon.", wiegle ich ab. "Ich friere nicht. Außerdem bin ich doch gleich wieder weg."

"Wollen Sie nicht mal eine Decke haben?", hakt sie erneut nach.

"Nein, danke. Ich brauche nichts.", sage ich ins Dunkel vor mir.

Sie seufzt. Anscheinend weiß sie, dass man mit mir nicht diskutieren kann.

"In Ordnung. Aber Sie sind spätestens in ein paar Minuten wieder im Zimmer. Und wenn Sie krank sind, will ich kein Gejammer hören."

Damit dreht sie sich um und verschwindet, die Balkontür wieder anlehnend, im Zimmer.

Ich ziehe erneut die kleine Taschenuhr aus der Hosentasche. Im glänzenden Metall spiegelt sich das schwache Licht. Mit den Fingerspitzen ertaste ich den eingravierten Vogel auf dem Deckel, bevor ich die Uhr aufschnappen lasse. Noch eine knappe Minute, dann ist das Jahr vorbei.

Ein Jahr, das für mich wie jedes andere begann, aber völlig anders endet. Dieser Unfall, der mein ganzes Leben für immer umkrempeln sollte. Monate habe ich in diesem Krankenhaus verbracht, und Monate werden noch folgen. Der Unterschied? Jetzt bin ich nicht mehr allein. Das neue Jahr wird anfangen wie kein anderes je zuvor, aber es wird gut werden. Vielleicht war dieser Unfall ja Schicksal. Ja, er brachte für mich die schlimmste Zeit meines Lebens, den größten Horror, den ich je erlebt habe, aber wenn ich damals nicht diese Böschung hinuntergestürzt wäre, dann hätte ich jetzt keinen Taehyung.

Keinen Jimin.

Keinen Jungkook.

Dieser furchtbare Sturz dort im Wald hat mich direkt in die Arme der besten Menschen geworfen, die mir hätten passieren können. Und dafür bin ich diesem verdammten Schicksal glaub' ich sogar dankbar.

Ich umfasse mit beiden Händen das Geländer des Balkons. Ich will aufstehen. Ich will aufrecht das neue Jahr begrüßen. Ich will mich nicht mehr in die Knie zwingen lassen, nicht jetzt, nicht hier. Nie wieder.

Mit Schwung ziehe ich mich aus dem Rollstuhl hoch, schwanke kurz, finde dann aber die Balance. Und stehe. Nach endlosen Monaten des hilflosen Herumsitzens endlich wieder stehen. Zwar ist es nicht vollkommen, und würde ich loslassen, würde ich wahrscheinlich umkippen, aber das ist mir in diesem Moment völlig gleichgültig. Ich fühle mich so stark, stark genug, um mich allem zu stellen, das mir im kommenden Jahr im Weg stehen wird.

Irgendwo schlägt es Zwölf. Ich lehne mich weit über das Geländer in die Nacht hinaus und wende den Kopf zum Himmel.

"Frohes neues Jahr.", flüstere ich den Sternen zu.

Und dann explodieren die Farben.

° ° °
Frohes neues Jahr, ihr alle! 🎉

RacerWhere stories live. Discover now