Normalität

2.4K 110 0
                                    

Das laute, unmelodische Klingeln meines Weckers riss mich aus dem tiefen Schlaf. Ich richtete mich ein Stück auf und haute auf den Wecker, sodass das Klingeln erstarb. Ein Stöhnen entfuhr mir und ich rollte mich auf die Seite. Sanfte Sonnenstrahlen erreichten mein Gesicht. Bevor ich endgültig aufstand, genoss ich die Wärme und schloss einen Moment meine Augen. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ich zur Schule musste.

Es war eher so, als läge dieses Ereignis in einer fernen Zukunft.

Trotzdem zwang ich mich selber aufzustehen und damit ein wenig Normalität in mein verkorkstes Leben zu bringen. Der Holzboden knarrte unter meinen Füßen und ich sah den Staub, den ich aufwirbelte in der Sonne. Mit schlürfenden Schritten betrat ich das Bad und betrachtete mich in dem alten Spiegel, der schon einen kleinen Sprung hatte. Mein Haar war zerzaust und unordentlich, doch ich sah besser aus als vor einer Woche.

Meine Wangen waren leicht gerötet und ich sah nicht mehr so abgemagert aus.

Ich griff nach der Bürste meiner Mutter und fuhr mir mit dieser sanft durchs Haar, während ich mich im Spiegel mit meinen braunen Augen betrachtete. Etwas an mir selber störte mich. Doch mir fiel nicht auf was, also nahm ich meine Wimperntusche und fuhr mir zögerlich damit durch die Wimpern. Ich legte meinen Kopf leicht schief und hielt inne.

Mit kritischem Blick musterte ich mich, doch immer noch fiel mir einfach nicht ein, was anders war. Ich legte meine Bürste weg und verließ das Badezimmer. Schon jetzt bemerkte man die Hitze, die sich im Laufe des Tages über der Stadt ausbreiten würde. Ich stellte mich vor meinen Schrank und überlegte was ich heute anziehen wollte. Langsam setzte ich mich auf mein Bett, welches direkt gegenüber von meinem Kleiderschrank stand.

Was zog ich nach einer Entführung und der Offenbarung, das mein Vater mich schlug an?

Was trug man, wenn die halbe Welt auf einen blickte und über einen redete, obwohl man sich jahrelang bedeckt gehalten hatte? Wie sollte ich mit diesem Wechsel, der wenn auch nur kurz war, umgehen? Etwas schlichtes, das meiner Meinung nach Gleichgültigkeit ausstrahlte oder etwas buntes, was Lebensfreude vermittelte?

Lustlos zog ich eine kurze beige Hose heraus und ein schlichtes blaues Top. Ich fand es perfekt, denn es war wieder das eine noch das andere. Es war ein Mittelding, das mir irgendwie ein Teil Normalität vermittelte. Ich warf einen Blick auf die Uhr, welche halb Acht anzeigte. Rasch schlüpfte ich in meine blauen Ballerinas und nahm mir meine dunkel braune Stofftasche, in der sich immer noch dieselben Schulsachen von vor ungefähr zwei Wochen befanden.

Es kam mir nur schon viel länger vor. Ich hing sie mir um und stieg die Holztreppe hinab. Es war ein komisches Gefühl alleine zu sein in diesem Haus. Ich kannte das nicht. Ich hatte immer leise sein müssen, mich in meinem Zimmer verkrochen und nun konnte ich quasi tun und lassen was ich wollte. Über diese Tatsache grübelnd, obwohl es eigentlich nichts zu grübeln gab, verließ ich das Haus und trat ich die Sonne, die an diesem Morgen angenehm warm war. Ich durchquerte den ungepflegten Vorgarten und blickte die Straße entlang. Außer einem alten Rentnerpärchen lief hier zu dieser Zeit noch niemand rum. Ich machte mich langsam auf den Weg und sah in der Ferne schon Marie wie sie eine Tüte vom Bäcker in der Hand hielt und mich freundlich anlächelte. Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig und wurde herzlich umarmt als ich Marie erreichte.

„Guten Morgen", sagte sie fröhlich und drückte mir eine Tüte mit Brötchen in die Hand.

„Ich weiß, dass du morgens nie was isst", antwortete sie auf meinen fragenden Blick.

„Danke."

Sie hakte sich wie immer bei mir ein und so machten wir uns auf den Weg zur Schule. Während wir den mir nur zu bekannten Weg entlang schritten, betrachtete ich die Umgebung, welche ich seit Jahren kannte. Doch auch hier störte mich etwas. Es waren alles Häuser und Plätze die ich kannte. Menschen die ich schon Ewigkeiten kannte, schlossen mich in die Arme und sprachen mir Mut zu und doch war es anders. Es hatte sich geändert. Was es war wusste ich nicht, nur dass es so war.

Entführt - Gerettet aus der HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt