Letzte Stunden

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Er entzog seine Hand meiner, was das Gefühl der Einsamkeit zurückkehren ließ. Ich schlang meine Arme um meine Beine, die ich anzog und starrte nach draußen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nils sich erhob und zu Ben schritt, der gerade das Wohnzimmer betrat.

„Wer hat Hunger?", fragte dieser fröhlich und ich hörte, wie er den Kühlschrank öffnete.

„Ich bin für Pizza", sagte Nils und ging über den Holzdielen zu der Couch, auf der er sich niederließ. Ich bewegte mich jedoch kein Stück.

„Franzi willst du auch Pizza", ertönte Bens Stimme aus der Küche. Bevor ich antwortete, konzentrierte ich mich auf meine Stimme und hoffte, dass sie stark klang.

„Ja", sagte ich und war erleichtert, als ich bemerkte, wie kräftig ich mich anhörte. Eine feuchte Hundenase, schnupperte an meinen Händen, mit denen ich mich immer noch zusammenhielt. Zumindest kam es mir so vor.

„Hey Kleiner", flüsterte ich, als Brownie, mich mit großen Augen anguckte und seinen Kopf auf den Boden vor mir legte. Vorsichtig löste ich eine Hand von mir und fing an Brownie hinter seinen großen Ohren zu streicheln. Jedoch fiel es mir schwer, da ich das Gefühl hatte in tausend Teile zu zerspringen, sobald ich mich nicht selbst festhielt. Ich hörte, wie Nils den Fernseher einschaltete und schlang meine Arme sofort wieder um mich, als ich bemerkte, worüber im Fernsehen geredet wurde.

„Polizeiberichten zufolge, soll Morgen um Zehn Uhr die Geldübergabe stattfinden. Dabei wird die entführte Franziska Meyer, der Polizei übergeben. Die Polizei ist schon vor Ort und sperrt die Umgebung ab."

In meinem Kopf regte sich etwas.

Hieß es nicht, dass der Deal in zwei Tagen stattfand und nicht schon morgen früh?

„Verdammte Scheiße Ben! Wir haben gesagt in zwei Tagen!"

Die Wut, die in dem Gebrüll von Nils mitschwang, ließ mich zusammenzucken. Ich drehte meinen Kopf herum und sah, wie Nils auf Ben zustürmte und ihn mit wutverzerrtem Gesicht gegen die Wand drückte.

„Sag mir, dass das ein Scherz ist!", brüllte er und rüttelte an Ben.

„Nein es ist kein Scherz! Ich wollte es dir noch sagen!", schrie Ben zurück.

„Du verdammtes Arschloch! Spinnst du!? Das hättest du mir früher sagen können!"

Ich sah, wie Nils mit der Faust ausholte und Ben einen Kinnhaken verpasste.

„Nils!", schrie ich nun und klang dabei ziemlich sauer, obwohl ich eher verwundert war. Ich raffte mich zusammen und stand mit wackligen Knien auf.

Stolpernd kam ich neben Nils zum stehen und versuchte mich zwischen ihn und Ben zu stellen, der schon aus der Nase blutete. Ich griff nach Nils Arm und klammerte mich dran fest. Augenblicklich hielt er inne und starrte mich außer Atem an. Er schubste Ben noch einmal von sich weg, ehe er mich mit schmerzverzerrtem Gesicht anschaute. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus der Küche und ich hörte, wie er die Tür zuknallte. Ich spürte wie ich zitterte und wandte mich Ben zu, der sich die Hand vor die Nase hielt.

Was war hier gerade passiert?

Bevor ich dieser Frage jedoch folgen konnte, wurde mir das Blut, das von Bens Hand tropfte bewusst.

„Oh Scheiße", murmelte ich und schaute Ben mitleidig an. Dieser nahm langsam seine Hand, die er vor seiner Nase hielt, weg und sah das Blut.

„Warte", sagte ich und blickte mich hektisch in dem großen Raum um, auf der Suche nach Taschentüchern. Keine zwei Meter von mir entfernt, sah ich welche und griff hektisch nach ihnen. Ich war nie gut in solchen Stresssituationen gewesen und Blut verunsicherte mich meist, sodass ich zu nichts mehr zu gebrauchen war. Ich fummelte ein Taschentuch aus der Packung und schob vorsichtig Bens Hand zur Seite, sodass ich ihm das Blut von der Nase tupfen konnte.

„Das sieht echt übel aus."

„Er hatte schon immer einen harten Faustschlag", erwiderte Ben und schnappte sich ein Taschentuch, mit dem er sich das Blut von der Hand wusch. Ganz vorsichtig fuhr ich mit dem Taschentuch über seine Nase.

„Aua."

„Tut mir Leid", sagte ich und bekam grauenvolle Gewissensbisse, als Ben leicht zusammenzuckte. Sofort zog ich das Taschentuch weg und verzog mein Gesicht zu einer entschuldigenden Miene. Als das Taschentuch voller Blut war, schmiss ich es in den Mülleimer und nahm ein neues, das ich etwas anfeuchtete. Erneut tupfte ich vorsichtig Bens Nase ab und entschuldigte mich die ganze Zeit.

„Franzi hör auf dich zu entschuldigen", murmelte er nach einer Weile. Ich wischte das letzte Rest Blut weg und schmiss das Taschentuch in den Mülleimer. Ich setzte erneut eine schuldbewusste Miene auf und betrachtete Ben, der seinen Nasenrücken abtastete und zusammenzuckte.

„Er hat mir echt die Nase gebrochen", sagte er völlig perplex.

„Der Vollidiot hat mir echt meine Nase gebrochen!", sagte er nun lauter und schien die Tatsache zu realisieren.

„Das darf er Jenny aber schön selbst erklären", murmelte er weiter, als er zu der Spüle ging und sich die Hände wusch.

„Wer ist Jenny?", fragte ich Ben, der immer noch ungläubig den Kopf schüttelte. Ich spürte wie fiese Gedanken und Vorstellungen sich in meinen Kopf schlichen und schließlich fiel auch das Gefühl der Eifersucht über mich her. Als ich ihn fragte, sah ich wie Ben anfing zu Lächeln, als würde er an einen Engel denken.

„Jenny ist meine Freundin", sagte er und strahlte mich an.

„Deine Freundin?", fragte ich irritiert.

„Jap. Ob du's glaubst oder nicht, auch Schwerverbrecher können eine Freundin haben."

„Ist das nicht etwas... umständlich?"

„Schon. Vor allem weil Nils und sie des Öfteren unterschiedliche Meinungen haben. Und glaub mir eins, dann fliegen auch Mal Messer durch die Gegend. Und ich bin jedes Mal der, der zwischen zwei Stühlen steht."

Ein Grinsen schlich sich bei dem Messerwurf Gedanken auf mein Gesicht, das Ben bemerkte und erwiderte.

„Weswegen bekommen die beiden sich, denn immer in die Haare?", fragte ich, während ich mich an den Esstisch setzte und Ben beobachtete, der in Erinnerungen versunken zu sein schien.

„Jenny hält Nils für einen Player und sagt ihm, er soll sich endlich eine vernünftige Freundin suchen, und nicht immer seine Betthäschen mitbringen." Ben kam hinter der Küchenzeile hervor und ließ sich auf einen Stuhl neben mir nieder.

„Geht das überhaupt?"

„Was?"

„Eine Freundin haben, wenn man ein Schwerverbrecher ist. Ich meine, ihr seid immer unterwegs und weltweit gesucht. Gibt es jemanden, der dichthält oder wie läuft das ab?"

„Wir telefonieren, wenn ich länger weg bin und wenn's nach Nils ginge, würden wir gar nicht mehr da auflaufen. Und ich kann ihn verstehen. Er fühlt sich glaub ich immer etwas einsam, wenn er mich mit Jenny sieht." Er seuftze einmal auf.

„Ich hab die Schläge so was von verdient", nuschelte er vor sich hin.

„Hast du nicht!"

„Doch habe ich. Ich hätte es ihm früher sagen sollen und nicht alles hinter seinem Rücken machen sollen."

„Wo ist er eigentlich hingegangen?"

„Keine Ahnung. Ich hoffe nur, dass er wiederkommt", sagte Ben und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

In meinem inneren verkrampfte sich alles, bei dem Gedanken ihn nie wieder zu sehen. Ich musste ihn einfach wieder sehen! Also blieben Ben und ich schweigend an dem Esstisch sitzen und lauschten den Geräuschen des Waldes, in der Hoffnung, eine Tür oder seine Schritte zu hören.



Entführt - Gerettet aus der HölleWhere stories live. Discover now