Vergangenheit

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Leises Plätschern drang an meine Ohren und ich merkte, dass es draußen angefangen hatte zu regnen. Im Takt prasselte das Wasser aus dem Himmel gegen die Fenster, wodurch ich mich langsam beruhigte. Meine Tränen waren schon längst versiegt, sodass mein Weinen zu einem krampfhaften Schluchzen geworden war. Doch nun hörte ich auf, denn ich wusste, dass der Himmel für mich weinte. Ich war nie gläubig oder hatte mich mit der Gottesfrage beschäftigt, doch in diesem Moment ging mir diese Frage durch den Kopf.

Gab es so etwas wie Gott?

Gab es jemanden irgendwo, der für mich weinte?

Der mit mir litt?

Oder waren das alles nur Hirngespinste, von Menschen, die Angst vor dem Tod hatten und sich deswegen an ein Buch krallten, dass von einem Mann handelte, der nur so vor Humanität strotzte? Ich fand es lächerlich. Wieso sollte es so jemanden gegeben haben? Und wieso sollte er für die Menschheit gestorben sein?

Religion war unlogisch für mich.

Ich wollte niemanden damit beleidigen, im Gegenteil. Jeder der etwas besaß ,an dem er sich festhalten und Kraft schöpfen konnte ,beneidete ich. Ich hatte es auch einmal versucht, doch ich kam damit nicht klar. Es war mir zu kompliziert, zu Human. Allein wenn ich mir die Menschen anschaute die an Gott glaubten, gerat ich ins Zweifeln. Nach außen waren alle fromm und herzlich, doch innerlich waren sie gierig und wie jeder andere. Der Mensch hatte nun mal tierische Instinkte und in mancher Hinsicht ließen diese sich nicht Unterdrücken.

Wie konnte also ein Mensch ohne tierische Instinkte so Human sein?

Ich bezweifelte nicht, dass es etwas gab, was über uns Menschen stand. Das hatte ich nie. Es war allerdings ein Rätsel, das ein Mensch der auf der Welt lebte nie lösen würde. Dazu müssten wir erst Sterben. Während ich über das alles nachgedacht hatte, war ich still geworden. Doch es war nicht diese Totenstille, die zu Beginn geherrscht hatte.

Der Regen brachte Gefühle zurück.

Er brachte mir meinen Verstand zurück und versetzte mich somit ind die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war allerdings nicht so rosig.

Ich war am Leben.

Hieß ich hatte einen Vater, der mich misshandelte. Und meine Entführer wussten das. Sie wussten, dass ich sterben wollte. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die weiße Decke, die grau wirkte, weil die Sonne von gigantischen, schwarzen Regenwolken verdeckt wurde.

Ich lauschte und hörte, den Regen, wie er von den Blättern tropfte, sowie mein Atmen. Und dann war da noch das Atmen von ihm. Er hatte kein Wort gesagt, seit er mich hoch getragen hatte. Er hatte einfach dagelegen und an die Decke gestarrt.

Was war er für ein Mensch? In einem Moment war er freundlich, so etwas wie ein Licht und in dem anderen Moment war er eiskalt.

„Mein Dad hat mich auch geschlagen."

Die Worte brachen die Stille wie ein Donner, obwohl sie nicht geschrieen worden waren. Sie waren einfach so in die Stille geplatzt und hatten mich aufhorchen lassen. Bis ich die Bedeutung dieser Worte verstand dauerte es einen Moment, der mir ewig erschien.

„Was?"

Ich wandte meinem Kopf zu ihm und schaute auf sein Profil. Verwunderung und Überraschung wanderte über mein Gesicht und Falten bildeten sich. Ich sah wie ein kleines Lächeln seine Lippen umspielte, er schaute jedoch weiter an die Decke.

Machte er sich lustig über mich?

„Ich war Acht als er anfing mich zu schlagen. Er stand unter Druck nachdem er meine Mutter umgebracht hatte. Die Polizei befragte ihn und ich war der einzige Zeuge. Das wusste allerdings niemand. Wenn ich ein Wort gesagt hätte, hätte er mich umgebracht, das hatte er mir mehrmals gesagt. Also hielt ich meine Klappe und spielte den kleinen Jungen, der unter dem Tod seiner Mutter litt. Die Wahrheit kennt bis heute niemand außer Ben. Nach seinem Mord, fing er an Drogen zu nehmen. Und wenn ich ihn was zu Hausaufgaben oder so fragen wollte, schlug er mich. Am liebsten war es ihm, wenn ich in meinem Zimmer war und keinen Mucks machte. Meine blauen Flecken versteckte ich und falls das nicht möglich war, erfand ich eine Ausrede. Sie haben's mir alle geglaubt. Und das nur, weil ich mich extra tollpatschig stellte. Das ganze ging Fünf Jahre so. Dann bin ich abgehauen. Es war Abends und er hatte mich wieder geschlagen. Kurz zuvor hatten wir in der Schule Huckleberry Finn gelesen. Naja, also bin ich weggerannt. Als er bemerkt hatte, dass ich weg war, hat er mich für Tod erklären lassen. Ich war auf meiner eigenen Beerdigung. Ich hab meinen eigenen billigen Holzsarg gesehen, wie er in die Erde gelassen wurde. Von da an war mein Vater für mich gestorben. Ich hab auf der Straße gelebt. Und eines Tages wollte ich ein Brötchen klauen, weil ich unglaublichen Hunger hatte, da kam ein kleiner schäbiger Junge zu mir und meinte, dass man nicht klauen dürfte. Dabei hab ich genau gesehen, wie er selber was eingesteckt hatte. Der kleine schäbige Junge war Ben. Wir haben uns also zusammen getan und ich hab ihm alles erzählt. Er erzählte mir von seinen reichen Eltern und deren Streit. Das war sein Grund abzuhauen. Die Straßen war hart, deswegen beschlossen wir zu trainieren. Wir mussten es schließlich mit den großen Jungs aufnehmen können. Und nach fast einem Jahr, kamen wir auf die Idee im großen Stil zu klauen. Über zwei Jahre haben wir trainiert und geplant. Währenddessen ist Brownie uns über den Weg gelaufen. Ich konnte ihn nicht im Regen stehen lassen. Er erinnerte mich zu sehr an meine Mutter. Bevor wir aber mit unserem derzeitigen „Job" anfingen, stattete ich meinem Vater einen letzten Besuch ab und schlug ihn zusammen. Außerdem schrieb ich einen Brief an die Polizei, in dem ich den Mord schilderte. Sie haben ihn in den Knast gebracht. Und danach haben wir mit den Rauben angefangen. Es ist einfacher und nicht so hart wie auf der Straße zu leben."

Er stoppte und ich betrachtete immer noch sein Mienenspiel. Es war hoffnungsvoll, verzweifelt, fröhlich und Wutverzerrt gewesen. Bei fast jedem Satz war ein anderer Ausdruck auf sein Gesicht getreten, der mich überrascht hatte. Doch am meisten, hatte seine Lebensgeschichte mich überrascht. Ich hatte ihm alles zugetraut, doch nicht so ein Leben. Ich bemerkte, wie er seinen Kopf zu mir drehte.

„Sprachlos?"

Ich nickte stumm und abermals stahl sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht.

„Du solltest dich nicht wegen deinem Dad umbringen wollen. Schau dich doch an. Du bist hübsch und klug. Du kannst tun und lassen was du willst. Also hör mit dem bescheuerten Gedanken auf, dich umzubringen."

Seine braunen Augen durchbohrten mich, aber sein Blick war sanft. Ich verlor mich in seinen Augen, denn diese waren nicht kalt, sie waren wie die von Brownie. Es war, als würden sie aus Verständnis, Hoffnung und Zuversicht bestehen. In meinem Inneren begann etwas zu brennen. Langsam kroch es hoch bis ich es überall spürte. Die Leere wurde von dem Leben, das sich durch diese Augen in mich ausbreitete, vertrieben. Und das erste Mal seit einer Ewigkeit, spürte ich alles.

Hoffnung.

Vertrauen.

Zuversicht.

Wut.

Einfach alles.

Mein Vater hatte es fast geschafft mich umzubringen. Und nun schaffte es ein Entführer, der von der Gesellschaft verurteilt wird, mich in das Leben zurück zu rufen. Böse war eben doch nicht böse. Manchmal steckte mehr hinter einer Maske, die jeder Mensch trug. Stumm betrachtete ich ihn.

„Meine Mutter ist abgehauen als ich noch klein war. Mein Vater hat sie auch geschlagen. Und jetzt mach ihr bitte keine Vorwürfe, wie jeder andere. Ich kann sie verstehen, ich wäre an ihrer Stelle auch abgehauen. Das schlimmste war aber, dass er mich angefasst hat. Bis ich Dreizehn war fast jede Nacht. Und niemand hat es gemerkt."

„Mieses Schwein." Verwundert sah ich, wie Nils's Gesichtsmuskeln sich anspannten.

„Es ist okay."

Ich war über mich selber verwundert. Meine Stimme war klar und fest. Ich war sachlich.

„Es ist okay? Der Kerl hat dich misshandelt."

Meine Miene blieb regungslos, während meine Augen auf ihm ruhten und versuchten ihn zu durchschauen.

„Ich weiß." „

Und das willst du einfach so über dich ergehen lassen?!"

Nun stand ihm die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben. Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus.

„Nein, ich werde ihm die Hölle zeigen."



Entführt - Gerettet aus der HölleWhere stories live. Discover now