Abschied

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Ein lautes Bellen riss mich aus dem Albtraum und bewahrte mich vor den Schlägen meines Vaters. Die Erinnerung in Form eines Traumes hatte sich wieder an den Vordergrund gedrängt und schwebte in meinem Kopf herum. Mein Herz raste und als ich meine Augen ein Stück öffnete blickte ich in einen Wald, der sanft von der Sonne geweckt wurde. Während ich das Sonnenspiel beobachtete, erinnerte ich mich an Kai und Lukas. Sie waren zwei Jungen aus meiner Klasse und mit Kai war ich sogar zusammen gewesen.

Der Traum handelte von dem Tag, an dem mein Vater aufgehört hatte mich anzufassen.

Der Tag an dem ich ihm meine Meinung gesagt hatte.

Etwas Raues und Feuchtes strich über meine Wange und der Geruch von Hundefutter drang an meine Nase.

„Brownie du stinkst", sagte ich mit brüchiger Stimme zu dem großen, braunen Labrador, der neben der Couch saß und mich anhechelte.

Dann drängte sich die Geräuschkulisse um mich herum in den Vordergrund. Langsam setzte ich mich auf und erhaschte einen Blick auf Nils, der etwas in einem Schrank suchte. Ben saß stumm an dem Esstisch und blickte auf ein Blatt Papier.

Brownie bellte einmal laut, sodass die gesamte Aufmerksamkeit auf mich fiel. Wortlos starrten die Beiden mich an. In meinem Hals bildete sich ein Kloß und ich hatte das Gefühl auf einer Bühne vor Tausend von Leuten zu stehen und gleich singen zu müssen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, warf Ben mir einen Mantel zu.

„Zieh den an", sagte er in einer monotonen Stimme und warf Nils einen strengen Blick zu. Ich zog ihn über die Sachen, die ich von Nils hatte und setzte mich wieder schweigend auf die weiche Couch. Die Geborgenheit dieses Ortes verschwand immer mehr, sodass ich spürte wie Tränen in meine Augen stiegen.

„Komm", ertönte es plötzlich vor mir.

Ich hob meinen Kopf ein Stück und blickte in Bens Gesicht. Doch anstatt ein sonst mir so bekanntes Lächeln vorzufinden, waren seine Lippen zu einem schmalen Strich gezogen. Mit zitternden Knien erhob ich mich und folgte Nils und Ben, die das Haus verließen. Ich bemühte mich jedes Detail dieses Hauses in mein Gedächtnis zu brennen und als ich durch das hölzerne Treppenhaus ging, blieben meine Blicke erneut bei den Gemälden von Nils hängen. Ich hielt innen und versuchte die Gefühle dieser Bilder in mir aufzunehmen um mich immer daran erinnern zu können. Die Schönheit war unbeschreiblich und ich könnte schwören, dass jeder Strich mit Liebe gezogen worden war.

„Nein Kleiner. Du musst hier bleiben."

Die sanfte Stimme von Nils und das Gewinsel von Brownie ließ mich den Blick von den Gemälden wenden. Er kniete vor dem Labrador, der ihn mit großen traurigen Augen anschaute und kraulte ihn sanft hinter den Ohren.

Ich schritt die letzten Stufen hinab und blieb neben Ben stehen, der sich die Szene ebenfalls anschaute. Kaum erblickte mich Brownie, stand dieser auf und kam zu mir. Er setzte sich vor mich und bellte. Verabschieden konnte ich mich jedoch nicht von ihm, denn Ben griff nach meinem Arm und zog mich hinter sich her. Ich warf einen letzten Blick auf Brownie, der mir hinterher rennen wollte, jedoch von Nils abgehalten wurde. Schnell schloss er die Tür hinter sich und das Jaulen von Brownie hallte durch den Wald.

Ich wusste, dass Nils so etwas nicht ertragen konnte und blickte ihm deswegen in die Augen. Ich hoffte etwas von dem Jungen zu sehen, den ich in den letzten Tagen kennen gelernt hatte. Stattdessen blickte ich in kühle Augen, die sobald sie auf meine trafen, sich dem Boden widmeten. Schließlich kehrte ich ihm den Rücken zu und verdrängte die Tränen, die mir langsam in die Augen stiegen. Ich stolperte fast, als Ben mich achtlos über eine große Wurzel zog. Mit Mühe fing ich mich ab und versuchte Schritt zu halten. Den ganzen Weg über blitzen Erinnerungen wie Feuerwerke vor meinen Augen auf und jede Erinnerung war schöner, als die vorherige. Ich war so darauf konzentriert meine Tränen zurückzuhalten, dass ich nicht bemerkt hatte, dass wir am Waldrand angekommen waren.

Ich sah einen Jeep dort stehen auf den wi uns zubewegten. Ben riss eine hintere Tür auf und drückte mich achtlos hinein, sodass ich mir mein Schienenbein an der Tür stieß. Ich wusste, dass dort ein blauer Fleck entstehen würde. Doch ich hatte überall Hämatome.

Kam es also auf ein weiteres kleines an?

Ich spürte wie er den Motor startete und Nils sich neben mich setzte. Ich gurtete mich an und betrachtete die Landschaft die an mir vorbeizog. Als hätte mich jemand ins kalte Wasser geschmissen, wurde mir bewusst was gerade geschah. Ich war auf dem Heimweg. Ich würde meinen Vater wieder sehen. I

ch würde die beiden nie wieder sehen.

Ich würde in mein altes Leben zurückkehren.

Ich würde wieder alleine sein.

Hatte sich etwas seit meiner Entführung verändert? Das bezweifelte ich ganz stark. Das Einzige was sich verändern würde, war, dass ich nun interessant war. Schließlich wurde ich von zwei Verbrechern entführt, welche Franzi als äußerst attraktiv empfand. Ich würde alles erzählen müssen und jedes Detail, jede Erinnerung, würde ein Loch in mein Herz reißen, denn ich hatte mich zum ersten Mal wie etwas Ganzes gefühlt.


Die ganze Fahrt über hatte ich aus dem Fenster geschaut und alles um mich herum ignoriert. Eine bedrückende Stille herrschte in dem Wagen und selbst als Ben das Radio angestellt hatte, hatte sich nichts geändert. Deswegen hatte er es nach kurzer Zeit wieder ausgestellt. Ich atmete aus und konzentrierte mich auf einen Baum, der auf einem verlassenen Feld stand. Mein Versuch wurde aber von einem lauten Dröhnen unterbrochen. Ich runzelte meine Stirn und blickte mich nach der Lärmquelle um und ein kleiner Schreck durchfuhr mich, als ich sah, dass es in Polizeihubschrauber war, der direkt über uns flog.

Wir waren also fast da.

Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, in der Hoffnung, dass ich mich irrte und schaute an dem Fahrersitz vorbei. Was ich dort sah, ließ mich erstarren. Polizisten, Feuerwehr, Krankenwagen, Fernsehen und mein Vater, der inmitten einer großen freien Fläche stand mit einem Koffer in der Hand. Ich bekam eine Gänsehaut und spürte wie meine seelischen Wunden wieder aufrissen. Viel zu schnell fuhr Ben vor und hielt zehn Meter vor meinem Vater, welche den Wagen kalt anblickte. Ich krallte mich an die Sitze und schrie innerlich auf.

„Steig aus", ertönte eine gleichgültige Stimme neben mir.

Obwohl ich mein Inneres gelähmt war, gehorchte ich der wunderschönen Stimme von Nils. Ich protestierte heftigst gegen meinen Verstand, der mich dazu zwang auszusteigen. Doch ich blieb stumm, als wäre meine Zunge ein Stein. Ich spürte wie Nils mich am Arm packte und über den heißen Asphalt zog. Mein Blick wanderte immer wieder zwischen meinem Vater und Nils hin und her. Ich sah, wie ihre Münder sich bewegten, sah wie sich die Mienen beider verzogen, doch ich hörte nichts. Da war nur das Rauschen in meinen Ohren. Ich war schlapp und bemerkte, dass mein Arm leblos an meinem Körper herunter hing.

In Zeitlupe ließ mich Nils los und sprintete vor. Menschen in Uniform rannten aufeinmal überall rum. Doch mein Blick folgte meinem Entführer, der gerade in einen Helikopter stieg und mich traurig anschaute. Ich wollte schreien, ihn bitten zu bleiben oder mich mitzunehmen, doch es kam kein Laut über meine Lippen. Meine Haare wurden zur Seite geweht und der Helikopter hob ab. Ein riesen Tumult war um mich herum und fassungslos starrte ich ihnen nach, wie sie im Himmel verschwanden. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Leute auf mich zu gerannt kamen. Einer der vielen fasste mich am Arm und seine Lippen bewegten sich ebenfalls. Meine Welt blieb jedoch tonlos. Die Tatsache, dass sie fort waren durchstach mein Herz wie ein Dolch. Ich blickte zu meinem Vater, der mich wütend anblickte und bemerkte, wie jemand geschockt auf meine Hämatome deutete. Mit größter Mühe brachte ich zwei Wörter aus meinem Mund.

„Mein Vater", antwortete ich auf die Frage, wer mir dies zugefügt hatte. Es war nur ein leises Flüstern, doch alle um mich herum schienen es verstanden zu haben, denn ihre Blicke wanderten zu ihm.

Und dann wurde alles schwarz.



Entführt - Gerettet aus der HölleWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu