#130 - Entscheidung

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Als ob mich der Artikel verarschen wollen würde, prallte er lautlos an der Wand ab und rollte am Boden entlang, bis er direkt vor meinen Füßen lag.

Ich sah ihn mit den Augen zu Schlitzen verengt an und musste mich zurückhalten, ihn nicht auf dem Boden mit dem Fuß zu zerquetschen.

Aber das würde ja auch nichts bringen.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen und fahrigen Händen fand ich dann eeeendlich das blöde Telefon auf dem Küchentisch.

Seufzend griff ich danach und suchte nach unserer Nummer von Zuhause.

Mein Finger schwebte schon über dem kleinen grünen Telefonsymbol – als ich innehielt und den Hörer zurück auf den Tisch legte.

Ich blickte es an und legte den Kopf schief.

Ich hatte es mir anders überlegt.

Das war ganz allein meine Sache, ich würde mir keine andere Meinung anhören. Ich wollte mich bei dieser Sache von keinem beeinflussen lassen.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging auf die große Fensterfront zu. Ich legte eine Hand an das kühle Glas und starrte hinunter in die überfüllten Straßen Manhattans. Mein keuchender Atem zeichnete sich auf dem Glas ab und ich hatte Mühe, mich aufrecht zu halten.

Jetzt denk endlich nach, Sam!, fuhr ich mich in Gedanken selber an.

Ich lehnte die Stirn gegen das Glas.

Ich wollte ja nachdenken.

...aber ...aber.... mein Hirn war wieder wie leer gefegt. (Ich kann gerne noch einmal den Vergleich mit dem Staubsauger und dem Gedanken-Genüsslich-Zermalmen bringen.)

Es war kein einziger Gedanke mehr in meinem Kopf. Es herrschte Leere.

Dafür klopfte mein Herz umso schneller.

Ich sah hinunter auf meine Armbanduhr.

Noch eindreiviertel Stunden.

„SAM!! Jetzt denk!!", sagte ich laut und zuckte beim Klang meiner eigenen Stimme zusammen.

Ich drehte mich um und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Glaswand. Ich raufte mir mit beiden Händen meine wirren Locken und beugte mich ein wenig nach vorne.

Ich kniff die Augen zusammen und hätte am liebsten losgeschrien. So lange, bis ich starb. Weil dann musste ich mich auch nicht mehr entscheiden.

Denk, denk, denk! Verdammt nochmal, Samantha!

„Scheiße... was jetzt...", keuchte ich und atmete zitternd ein. Meine Kehle schnürte sich zu und ich hatte das Gefühl, als würde ich gleich ersticken.

Ich schnellte von der Wand weg und begann, in Papas Wohnzimmer auf und ab zu laufen und dabei unkontrolliert zu schluchzen.

Tränen liefen keine mehr, ich hatte mein Kontingent heute schon verbraucht.

Sonderlich positiv hatte Harry selbst ja nicht gelungen.

Ach, so ein Quatsch!!

Ich zuckte zusammen, als ich diese Stimme in meinem Kopf hörte. Es war nicht Caros Stimme, die ich sonst öfter hörte oder mir vorstellte. Es war auch nicht Jana und auch nicht Leo oder Mom.

Es war ... ja, was war das? Mein Unterbewusstsein?

Wieso sollte er nicht positiv geklungen haben?!

„Er hat gesagt, es wird nicht leicht, das kann er mir gleich garantieren", knurrte ich. Das kam mir jetzt überhaupt nicht Recht, dass da so eine blöde Stimme in meinem Kopf erschien. War sie etwa übergeschnappt?! Sie mischte sich allen Ernstes ein?!

Irgendjemand muss dir ja helfen.

„Danke, ich komm gut alleine klar", gab ich bissig zurück.

Zurück zum Thema. Er hat nicht negativ geklungen.

„Ach ja?"

Ja! Er hat NUR gesagt, dass es nicht einfach wird! Er war einfach nur ehrlich und mehr nicht! Er war ehrlich von Anfang an zu dir. Er liebt dich, Sam. Er hat so sehr gekämpft. Er ist dir bis nach New York gefolgt, also bitte! Mach die Augen auf und kapier es endlich!!

„Ich hab es doch schon lange kapiert!!!! Meinst du ich bin doof oder was!!?!?", rief ich aufgebracht und warf die Hände in die Luft. „Ich hab's kapiert!! Ich glaube ihm ja!!! Aber kannst du das nicht verstehen, dass ich sooo eine Scheiß Angst habe?!? Ich will nicht wieder so enttäuscht werden wie von Nico!!" Ich ließ meine Hände nach unten sinken und schluckte schwer. „Ich war am Ende, ich war zerstört... Und jetzt kommt Harry daher und... und ...... wenn es mich wieder so auf die Schnauze lässt wie bei Nico, überlebe ich das nicht", flüsterte ich schwach.

Ich ließ mich auf de Couch sinken und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Ich konnte den Schmerz in meiner Brust kaum noch aushalten.

Verdammt, ich liebe ihn doch!

Ich liebte ihn mit jeder Faser meines Körpers. Ich würde nie jemand anderen lieben können.

Ich hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt.

Wie will man sich in jemanden verlieben, den man noch nie gesehen hat? Das geht nicht, ist doch lächerlich. 

Wenn man sich nicht kennt, noch nie gesehen hat, nicht einmal weiß, wie der andere so ist.... das geht nicht. Ich hatte das immer für einen totalen Schwachsinn gehalten.

Tja.

Harry hat mich von dem Gegenteil überzeugt.

Sofort erschienen seine grünen Augen vor mir und ein warmer Strahl durchfuhr mich vom Scheitel bis in den kleinen Zeh. Ich konnte diese besondere Verbindung zwischen uns sogar jetzt spüren, obwohl er wahrscheinlich schon auf dem Empire State Building stand und nicht in meiner Nähe war. Ich konnte es spüren, es war... es war unbeschreiblich. Man konnte es nicht in Worte fassen. Das konnte man nicht erklären, man musste es selbst erlebt haben, um es verstehen zu können.

Er hatte mich vom Gegenteil überzeugt.

Es gab Liebe auf den ersten Blick.

Es gab sowohl die große Liebe als auch Liebe auf den ersten Blick.

Sie existierten beide.

„Und genau das ist der Grund, wieso ich jetzt zum Empire State Building muss", hauchte ich, hob das Gesicht aus meinen Händen und strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

HeartbeatWhere stories live. Discover now