#14 - Mein Schicksal ist kein Gentleman

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Ich atmete schnappend ein.

Er war wirklich hier. Ein paar Meter von mir entfernt.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte keine Ahnung, was wir jetzt machen sollten.

Ich spürte Janas Blick auf mir, doch ich sah nicht zu ihr rüber, denn dieser blöde Anzugkerl stand ja immer noch zwischen uns.

Die Aufzugfahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor.

Auf einmal kam mir eine krasse Idee.

Eine verrückte, abgefahrene Idee.

Ich wusste, es würde alles noch schlimmer machen, wenn es nicht funktionieren würde. Aber ich war zu stolz und zu starrsinnig, um mich von irgendsolchen Typen anzeigen und wie der letzte Schwerverbrecher behandeln zu lassen.

Also entschied ich mich jetzt doch für die andere Möglichkeit. – Nicht ‚sich stellen'... sondern Flucht.

Oh Gott, Sam, du Idiotin!

Doch ich konnte meine Entscheidung nicht mehr überdenken oder mir auch nur einen Plan zurecht legen, denn der Aufzug kam rumpelnd zum Stehen – dafür, dass das so ein Nobelschuppen war, konnten die den ruhig mal reparieren – und die Türen öffneten sich.

Jetzt oder nie.

In dem Moment, als der Mann uns aus dem Aufzug ziehen wollte, schubste ich ihn mit voller Kraft rückwärts gegen die Aufzugwand und drehte mich noch in derselben Sekunde zu Jana.

„Lauf!!", rief ich und griff nach ihrer Hand. Ich nutzte den Augenblick, da der Mann sich erst einmal perplex wieder aufrappeln musste.

Ich riss an ihrem Arm und sie setzte sich schwerfällig in Bewegung. Ich konnte genau spüren, dass ich sie genauso überrumpelt hatte wie den Mann, der sich jetzt wieder gefasst hatte und endlich gerafft hatte, was hier gerade geschah.

„HEY!! STOPP!! STEHEN BLEIBEN!!", rief er donnernd.

Ich lachte in mich hinein und zog mein Tempo an. Ich hörte Jana aufjaulen, doch  jammern konnte sie später, dazu hatten wir jetzt keine Zeit.

Ich steuerte in Höchstgeschwindigkeit auf den Gang zu, aus dem wir vorhin schon rausgeschaut hatten. Es fühlte sich an, als wäre das schon Stunden her, aber eigentlich war es erst eine Viertelstunde.

Ich hörte polternde Schritte und weitere Schreie. Außerdem wurde das Gewicht an meinem Arm immer schwerer. Jana konnte nicht mehr.

„Komm schon, komm, Jana! Wir schaffen das! Los!!", rief ich über die Schulter. Ich hörte sie knurren und sie beschleunigte ihre Beine.

„IHR KOMMT UNS NICHT DAVON!!!!", hörte ich jemanden fuchsteufelswild brüllen.

Tja, das glaubt ihr, doch ich zeige euch jetzt, wie der Hase läuft.

Genau so kam ich mir gerade auch vor. Wie ein Hase, der vor mehreren Jägern davonlief.

Wir jagten durch den Gang und auf die offene Tür zu, durch die man den Lieferwagen sehen konnte, der dort immer noch stand.

Als wir draußen im Freien waren, wollte Jana stehen bleiben, aber ich riss sie am Arm weiter.

„Nicht stehen bleiben, die kommen uns doch hinterher!!!", erinnerte ich sie panisch. Wir hetzten weiter, durch Seitenstraßen, Hinterhöfe und verwinkelte Gassen.

Nach ungefähr fünf Minuten schrie Jana auf und löste sich aus meinem Schraubstockgriff.

„Ich... nicht... mehr .... Scheiße", war alles, was sie herausbrachte. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Kopf war hochrot und ihr strömten die Tränen übers Gesicht.

Ich ging langsam die paar Schritte, die uns trennten, auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie ließ sich gegen mich sinken und ich zog sie auf die nächstgelegene Bank. Ich merkte erst jetzt, dass wir am Rand eines Parks angekommen waren.

Schluchzend klammerte sie sich an mich. Diese Verfolgungsjagd hatte sie ziemlich fertig gemacht.

Nach ein paar Minuten löste ich ihre Arme von mir und riss mir die Schürze, die ich immer noch trug, runter und stopfte sie in den nächsten Mülleimer.

Ich zog sie an der Hand auf die Beine und wir gingen in den Park und setzten uns auf die Wiese. Vor ein paar Sekunden war die Sonne herausgekommen und es war heute eh ein ziemlich warmer Herbsttag.

Ich ließ mich rückwärts ins Gras sinken und schloss die Augen. Sofort erschien er wieder. Sein Gesicht, wie er mich ansah, als er mich erkannte. Als er den Mund öffnete, um nach mir zu rufen – und als sich die Tür erbarmungslos schloss und uns trennte.

Ich schluckte schwer und spürte, wie mir Tränen die Schläfen hinunter in meine schwarzen Locken liefen.

Ich öffnete die Augen und sah, dass Jana mich anblickte.

„Ich kann's nicht glauben", flüsterte sie. Sie starrte ins Gras. „Das war echt wie in einem schlechten Kinofilm. Genau dann kommt er aus der Tür raus!"

„Mein Schicksal scheint mich zu hassen...", seufzte ich, „das ist doch nicht fair... Erst in der Tiefgarage, dann heute... Das ist nicht fair!", klagte ich und neue Tränen landeten in meinen Haaren.

„Ich hab keine Ahnung, was wir noch machen können", sagte Jana traurig und wischte sich über die Augen.

„Machen wir uns erst einmal auf den Weg nach Hause", schlug ich vor und richtete mich auf.

Langsam schlurften wir los. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo wir waren, und hatte aber auch keine Lust, in Google Maps nachzuschauen. Irgendwann würden wir schon eine U-Bahn-Station finden, spätestens dann wusste ich, wo wir uns befanden.

~~~

Ich lag inzwischen frisch geduscht in meinem Bett und starrte an die Decke. Ich hatte Caro angerufen, kaum dass ich durch die Haustür war. Als sie abhob, weinte ich so sehr, dass ich keinen Laut außer einen leisen, herzzerreißenden Schluchzer hervorbrachte. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten, sie legte einfach auf.

Ein paar Minuten später hielt sie mich auch schon in den Armen und drückte mich ganz fest an sich.

Ich brachte mit Mühe und Not die Geschichte hervor.

Caro war genauso schockiert wie wir es waren. Und sie hatte natürlich den gleichen Gedanken wie ich – „dein Schicksal ist kein Gentleman... das könnte ruhig mal etwas netter zu dir sein!"

Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte nichts. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich überhaupt noch sagen sollte.

Irgendwann fuhr Caro nach Hause und ich verzog mich in mein Zimmer. Nach einer halben Stunde hörte ich es an der Haustür rumoren. Ich wollte heute mit niemandem reden, also stellte ich mich schlafend, als meine Zimmertür aufging und jemand nach mir sah. Keine Ahnung, ob es Mom oder Leo war, interessierte mich aber ehrlich gesagt momentan auch herzlich wenig.

Nach stundenlangem Wachliegen und Hin-und-Herwälzen fiel ich endlich in einen sehr unruhigen Schlaf.

~~~

Ich wachte am nächsten Tag mit starken Kopfschmerzen auf. Mein Kopfkissen war komplett durchnässt, ich hatte wohl im Schlaf geweint.

Ich seufzte und rieb mir über die Augen. Langsam öffnete ich sie und sah auf die Uhr – und mein Herz blieb stehen.

Ach du .... ACH DU SCHEISSE!!!!!

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt