Kapitel 06

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  Während Rosa und Daisy sich sprachlos anstarren, sehe ich zu Sebastian rüber, der die Szene mit einem verwunderten Stirnrunzeln betrachtet. Ich kann seine Verwirrung verstehen. An nur einem Tag zwei fremde Gesichter in dem Apartment seines großen Bruders begrüßen zu dürfen, muss eigenartig sein. Ich frage mich, ob er sich vielleicht doch noch an mich erinnern kann. 

 "Und wer ist das jetzt?" Sebastian setzt sich so um, dass seine Beine über die Armlehne der Couch baumeln. Bevor Rosa Daisy davon abhalten kann, sich vorzustellen, ist es auch schon passiert. "Und wer bist dann du?" Sebastian versteht die Welt nicht mehr. Er schüttelt nur den Kopf und starrt abwechselnd mich und Rosa fragend an. Doch dann geht ihm auf einmal ein Licht auf. Seine Brauen zucken kurz und dann weiten sich seine Augen. "Du bist also... Birdie? Der Grund, warum die erste Priorität meines Bruders wieder seine Arbeit ist?" Bei seinen Worten stockt mir der Atem. "...und nicht zu vergessen, warum Rosa unbedingt die Mandelmilch vom Biomarkt auf der anderen Seite der Stadt besorgen sollte und nicht beim Supermarkt um die Ecke." Ich beobachte, wie seine Gesichtszüge sich zu einem breiten Lächeln formen und er ein belustigtes Lächeln von sich gibt. Rosa hatte mir erzählt, dass sie mit Sebastian über die Supermarkt-Situation mit Sebastian geredet hatte. Wenn ich mich sogar recht erinnere, dann meinte Rosa sogar, dass er derjenige war, der ihr verklickern wollte, dass Damien sie wegen mir nicht zum Supermarkt geschickt hatte. 

  Ich sehe Daisy, die Probleme damit hat eins und eins zusammenzuzählen, aber ich möchte ihr auch nicht auf die Sprünge helfen, denn deswegen ist sie nicht gekommen. Sebastian springt vom Sofa auf und gibt Daisy die Hand. "Nett dich kennenzulernen, Daisy.", sagt er und überrumpelt sie mit der plötzlichen Aufmerksamkeit, die ich so von ihm noch nicht gesehen habe. "Wir lassen euch mal alleine.", führt er die einseitige Unterhaltung fort und geht dann auf mich zu, um mich bei der Hand zu nehmen. Ich schaue Rosa mit einem Schulterzucken und gehobenen Brauen an, die mir nur ein zuversichtliches Nicken als Antwort gibt. Die beiden haben wirklich viel zu besprechen und Daisy scheint ein Gespräch wichtig zu sein, denn sonst hätte sie den Besuch bei ihrer Schwester in Sheffield nicht einfach so abgebrochen. 

  Im Flur lässt Sebastian meine Hand wieder los. "Du musst mich über einiges aufklären, würd' ich mal einfach so sagen." Er führt mich in Damiens Arbeitszimmer nebenan und für einen Moment durchlebe ich ein Deja-vu -- nur weiß ich, dass Sebastian nicht Damien ist und das nicht so ein Gespräch werden wird, wie damals mit Damien. Wir setzen uns auf die weiße Couch, die ich mit Rosas Schlafanzug zum Glück nicht beschmutzen werde. Das Letzte, was ich bei diesem kurzen, letzten Besuch hinterlassen möchte, sind Flecken von meinen dreckigen Klamotten. "Also, schieß' los."

  Ich beiße mir auf meine Unterlippe und spüre mein Herz gegen meine Brust hämmern. "Ich weiß nicht....was möchtest du denn überhaupt wissen?", das ist es wirklich, was ich mich frage. Wenn Rosa alles mit ihm besprochen hat -- wofür ich ihr auf gar keinen Fall böse bin --, dann wird er doch sicherlich den Teil, in dem Damien mich aus seinen Apartment geworfen hat, nicht überhört haben. Mehr gibt es da wohl nicht zu erzählen.

 "Hmm...also bevor wir ins Detail über dich und meinen Big Bro gehen, können wir ja bei den einfacheren Dingen beginnen, was sagste?" Er grinst mit zusammengepressten Lippen, aber es ist mehr ein höfliches als ein herzliches Grinsen. Zögernd nicke ich. "Also, Birdie, was machst du denn so beruflich? Welches Auto fährst du? Deine Lieblingsteesorte?" Mir bleibt die Spucke im Hals stecken bei seinen Fragen, die ich nur mit Lügen oder der Wahrheit, die mich sofort in ein schlechteres Licht rücken würde, beantworten kann. Hat Rosa denn nicht erwähnt, dass ich obdachlos war, bevor mich Damien aufgenommen hatte, und es jetzt wieder bin, nachdem er mich wieder loswerden wollte? Ich entschließe mich dazu, die direkte Wahrheit zu umgehen und gegen das Lügen.

"Also ich bin momentan arbeitssuchend, fahre kein Auto und bevorzuge eine Tasse heißen Kakao." Irgendwie habe ich das seltsame Gefühl, dass er es verdient, nicht belogen zu werden, denn er scheint -- genau wie ich -- von einer gewissen Neugierde geplagt zu sein, und wenn ich ihn etwas fragen würde, dann würde ich mir auch wünschen, dass er es so ehrlich wie möglich beantwortet. Sebastians weiße Zähne blitzen hervor.

"Woah, genau wie ich." Er nickt lächelnd und diesmal erreicht das Lächeln sine Augen. Damien hat den Kakao also wirklich für ihn gekauft.

"Du arbeitest also nicht mehr in der Bar als Kellner?", hake ich nach und bemerke gar nicht so recht, dass ich mich wie ein Stalker aufführe. 

"Ich wusste doch, dass ich dich irgendwo schon mal gesehen habe! Stimmt...du warst auch diejenige, der meine Mutter ihren Regenschirm gegeben hatte!" Er zeigt nachdenklich mit dem Finger auf mich. "Aber du warst damals mit Rosa in der Bar und Daisy war auch dabei. Hätte ich doch bloß früher gewusst, wer ihr seid, dann hätte es dieses komische durcheinander heute nicht gegeben und ich hätte euch eure Getränke umsonst spendiert. Obwohl ich doch ziemlich enttäuscht bin, dass ihr mich so habt auflaufen lassen." Er spielt mir ein trauriges Gesicht vor. Ich hätte nie erwartet, dass ein Gespräch mit Sebastian so locker flockig sein könnte. Es ist ganz anders als mit Damien. 

"Tut mir leid, ich wollte dich nicht verwirren. Ich hätte es bloß lieber, wenn Damien nichts von meinem Besuch erfahren würde.", gebe ich zu und befeuchte danach meine trockenen Lippen mit meiner Zunge. "Versprichst du mir, ihm nichts zu verraten? Ich wollte bloß für Rosa da sein." Mein Körper entspannt sich mit einem Mal und ich fühle mich ungewöhnlich wohl in seiner Gegenwart. 

  Er zuckt mit den Schultern. "Klar. Ich werde nichts sagen, aber eigentlich waren wir noch nicht bei diesem Thema, wenn ich dich erinnern darf." Ich muss lachen. Der Typ hält sein Wort, keine Frage. Ich wundere mich bloß, wie jemand wie er, aus seinem Wohnheim geschmissen wurde und danach ins Gericht musste. "Um deine Frage von vorhin zu beantworten. Ich arbeite nicht mehr in der Bar, da ich mir das Wohnheim sowieso nicht mehr leisten kann. Das ist 'ne lange Geschichte, werd' ich dir irgendwann anders mal erzählen. Jedenfalls wohne ich jetzt mit meinem Big Bro." Jedes mal, wenn ich die Bezeichnung Big Bro aus Sebastians Mund höre, muss ich augenblicklich schmunzeln. Was Damien wohl dazu sagt, dass sein kleiner Bruder ihn so betitelt. Ich kann mir sein genervtes Gesicht nur zu gut vorstellen. "Aber jetzt kommen wir zum Hot Topic des Tages. Wie hast du es geschafft, das Herz meines Bruders, das wie ein Piratenschatz in Uncharted irgendwo versteckt auf einer unentdeckten Insel gelegen hat, so schnell in deinen Bann zu ziehen? Hut ab. Ehrlich, Hut ab! Von jemanden wie dir kann man nur lernen. Also los, verrat' mir deine Geheimtricks." Er zwinkert mich an, während sich seine Worte immer und immer wieder in meinen Gedanken wiederholen.

  "I-Ich, also eigentlich weiß ich nicht so recht, was das überhaupt war. Ich habe mich eigentlich damit abgefunden, dass unsere Wege nicht dafür bestimmt waren, sich wieder zu kreuzen." Ich fühle mich nicht unwohl, bin jedoch unsicher, was ich darauf antworten soll. Aber so langsam wird mir klar, warum Rosa ihm nicht erzählt hat, dass ich obdachlos bin. Kyra war auch seine Schwester und Rosa wollte ihn bestimmt nicht an ihr Schicksal erinnern. Vor allem nicht, weil es erst zwei Jahre her ist. "Ich glaube ich war einfach in einer Zeit für ihn da, in der er jemanden brauchte...und als er niemanden mehr braucht, brauchte er auch mich nicht mehr." Meine eigenen Worte schockieren mich, denn sie könnten die Situation meiner Meinung nach nicht besser beschreiben.

  Sebastians Gesichtszüge werden hart und er sieht mich mit einem eindringlichen Blick an. Jetzt fühle ich mich unwohl. Genauso unwohl, wie an dem Tag, als ich auf dieser Couch gesessen hatte und Damien mich zurecht gewiesen hatte. "Ich denke, dass er dich nicht nur damals gebraucht hatte. Ich denke, dass er das immer noch tut, es nur einfach nicht zeigen kann. Aus welchem Grund auch immer.", sagt er und ich muss schlucken, als im nächsten Moment das Klingeln des Fahrstuhls aus dem Flur ertönt und ich Damiens tiefe, aufgewühlte Stimme höre. 


  Frage des Kapitels: Was war euer Lieblingsmoment in Million Dollasr Between Us und warum?:)

The Rain Upon Us (Damien & Birdie - Trilogie #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt