Kapitel 03

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 Als ich meine Augen öffne, erkenne ich eine weiße Wand und das Garagentor, welches sich vor Rosas Auto einrollt. Ich lege meine Stirn in Falten, während ich mir mit den Fingern die Augen reibe. Sie wollte mich in den Vauxhall Park fahren, aber das sieht ganz und gar nicht wie der Vauxhall Park aus. 

  Rosa hat noch nicht bemerkt, dass ich aufgewacht bin und während wir in die grelle Garage fahren, denke ich an die rote Eisenbahn, die mein Bruder so liebte. Die rote Eisenbahn, die mein Unterschlupf im Sommer ist. Sie steht im Vauxhall Park. Aber wir sind nicht im Vauxhall Park. Wir sind in Damiens Garage. Panik bricht in mir aus und ich schnappe nach Luft. Rosa erschreckt sich, sodass das Auto kurz stoppt und wir beinahe aus unseren Sitzen geschleudert werden und ich das laute Quietschen der Reifen höre. 

  "Birdie.", haucht sie ängstlich. 

  "Wo sind wir?", frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Ich traue mich nicht, ihr in die Augen zu schauen. Ich weiß nicht, ob ich sauer oder ängstlich sein soll, denn momentan spüre ich eine Mischung aus beidem. 

 "I-Ich-", beginnt sie den Satz. "Also, wir..." Nun drehe ich meinen Kopf zu ihr. "Wir sind bei Mr. Hamilton." Ihr Blick senkt sich.

 "Ich hoffe, du wolltest nur den Einkauf schon mal wegbringen, bevor du...", beginne ich ebenfalls meinen Satz, bemerke jedoch, dass es unhöflich klingt, wenn ich den Satz so aussprechen würde, wie ich ihn in meinen Gedanken geformt hatte. "Was wollen wir hier."

 Rosa nimmt einen tiefen Atemzug und schlägt mit ihren Händen auf das Lenkrad. "Mist.", flucht sie und wirft ihren Kopf in den Nacken. Als sie sich wieder beruhigt hat, schließt sie ihre Augen. "Ich erkläre dir alles, wenn du mir versprichst, mit hoch zu kommen." Hektisch schüttle ich meinen Kopf. Nein. Oh nein. 

"Niemals. Ich werde nie wieder dieses Apartment betreten.", sage ich und versuche all die Erinnerungen, die ich mit diesem Ort in Verbindung bringe, zu verdrängen.

"Bitte, Birdie.", fleht Rosa und ich weiche ihrem Blick aus. "Mr. Hamilton ist nicht da. Er ist morgen für sechs Tage auf Geschäftsreise und Sebastian ist mit seinen Eltern vor Gericht. Wir sind zu hundert Prozent alleine dort oben." Sebastian muss wohl einer der ganz schlimmen Sorte sein, wenn er aus dem Wohnheim geschmissen wurde und jetzt auch noch vor Gericht aufkreuzen muss. Ich rutsche in meinem Sitz hin und her, als wir auf Rosas Parkplatz parken. Ein Teil von mir würde gerne mit ihr mitgehen, einfach um zu sehen, ob sich etwas verändert hat oder ob alles beim alten ist. Aber der andere Teil von mir hat Angst mich meiner Vergangenheit zu stellen. Ich hatte längst mit diesem Lebensabschnitt abgeschlossen. Ich hatte alles gegeben, diese Zeit bei Damien so schnell wie möglich zu vergessen und ungeschehen zu machen. Aber spätestens als ich Rosa auf dem Parkplatz vor mir stehen gesehen habe, wusste ich, dass diese Zeit niemals ungeschehen gemacht werden könnte. "Bitte sag' etwas, Birdie." Ich schließe meine Augen und versuche meine innere Unruhe zu bändigen. Ich meine, was soll schon passieren? Weder Damien, noch seine Familie wartet dort oben auf mich... "Bitte sag' ja."

  Ich kneife meine Augen fest zusammen. "Ja.", würge ich. Rosa klatscht ein Mal mit den Händen. "Aber nur, wenn wir in dein Zimmer gehen und ich nicht in alte Verhaltensmuster verfallen muss.", füge ich hinzu und Rosa nickt hektisch. Das Einzige, woran ich in diesem Moment denken kann, ist, wie müde ich doch bin. Mir fehlt der sorglose Schlaf in den warmen vier Wänden von Damien. Mir fehlen Rosas beeindruckende Frühstück-Kreationen und die Bäder mit den duftenden Rosenblättern. Ich gähne und schniefe mit der Nase, bevor ich aus dem Auto steige, um Rosa beim Tragen des Einkaufs zu helfen. "Bist du dir sicher, dass du nicht deinen Job verlieren würdest, wenn Damien davon Wind bekommt?" Meine Stimme klingt sarkastisch und ängstlich zugleich. 

  "Juckt mich nicht, um ehrlich zu sein. Ich würde überall einen Job bekommen, London ist voll von reichen Geschäftsmännern. Obwohl ich sagen muss, dass wenn man für den reichsten unter 30 jährigen Geschäftsmann arbeitet, es durchaus seine Vorteile hat." Mit einem Piepen öffnet sich die Tür zum Flur, der uns zu dem Fahrstuhl führen soll. Anscheinend ist es wohl wirklich nicht schwer, in London einen Job zu ergattern. Wenn selbst Meredith, eine verlogene Diebin, einen Job findet, dann kann es ja nicht so schwer sein. Vielleicht sollte ich es auch einfach mal versuchen... Ich frage mich, ob Rosa Meredith kennt. Schließlich ist Juleya ihre Ex und wer weiß, ob sie sich nach dem Treffen in der Bar nicht wieder getroffen haben. Rein freundschaftlich natürlich.

   "Wie geht es Daisy?", frage ich, als wir den Fahrstuhl betreten. Rosa zuckt unerwartet mit den Schultern und haut mit einer derartigen Wucht auf den Knopf des obersten Stockwerks, dass ich vor Schreck zusammenzucke. 

 "Keine Ahnung. Es ist kompliziert.", sagt sie und möchte offensichtlich nicht darüber reden.

 "Ihr seid aber noch zusammen, oder?", hake ich nach, obwohl ich weiß, dass ich es lieber dabei belassen hätte sollen. Rosa nickt und ich atme erleichtert auf.

 "Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung. Sie ist übers Wochenende bei ihrer Schwester in Sheffield." 

 "Ach so.", antworte ich verlegen. Ich bin sauer auf mich, dass ich immer so neugierig sein muss. Das gehört sich wirklich nicht. Die Fahrt nach oben fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Irgendwann öffnen sich dann endlich die schweren Türen und beim Anblick des Apartments stockt mir der Atem. Es ist, als hätte ich das Apartment nie verlassen - meine größte Angst wird wahr. 

 Rosa geht voraus und in die Küche, um die Lebensmittel einzusortieren. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. "Erde an Birdie?", höre ich sie sagen, aber ich kann nicht reagieren. Ich rieche ihn. Ich rieche seinen Duft. Damien. Dann spüre ich, wie sich die Tränen in meinen Augen formen. Soll ich es wirklich wagen, diesen Boden zu betreten? Ich glaube ich war noch nie in meinem Leben so lange mit einer einzigen Entscheidung beschäftigt, wie in diesem Moment. Ich meine, ich habe es Rosa versprochen und normalerweise breche ich keine Versprechen. Mit einem Ruck setzen die Türen zum Schließen an und der Spalt wird immer schmaler. Ich beiße die Zähne zusammen, als würde jeder Schritt ein bisschen mehr schmerzen, um mich schließlich durch den engen Spalt zu quetschen. Und da bin ich. Ich bin in Damiens Apartment, dabei würde ich wahrscheinlich viel lieber auf der Straße sein. 

 "Gibst du mir deine Tasche?" Rosa weckt mich aus meinem Tagtraum und ich stammele irgendwelche Worte, die niemand verstehen kann. Aber Rosa steht bereits vor mir und nimmt mir den Beutel ab. Als sie zurück zum Kühlschrank geht und ich sie stumm dabei beobachte, fällt mir als erstes das Kakaopulver im schwingenden Beutel auf. Rosa greift danach und stellt es auf die Theke, direkt neben die Mandelmilch. "Ich dachte, ich mache dir einen Kakao.", sagt sie, nachdem sie mein Starren bemerkt. 

 "D-Danke.", schaffe ich zu antworten und gehe auf die Küchentheke zu.

"Du kannst schon mal in mein Zimmer gehen. Es ist im Flur zu Mr. Hamiltons Zimmer, aber nicht die Treppe rauf, sondern die Tür geradeaus. Dort ist ein kleinerer Flur. Das letzte Zimmer ist meins." Ich nicke aufmerksam und versuche mir ihre Wegbeschreibung zu merken. Wie viele Flure hat dieses Apartment eigentlich? "Ich bringe dir den Kakao gleich nach."

 "Danke.", wiederhole ich mich und höre Rosa murmeln, wie sehr sie es vermisst hätte, während ich mich umdrehe und den Flur entlang gehe. 

  Obwohl ich es versuche zu vermeiden, denke ich sofort an meinen ersten Tag im Apartment, als Rosa mir ein Bad eingelassen hatte, ich das Wohnzimmer für den Flur gehalten und ich orientierungslos das Badezimmer gesucht hatte. In meinen Gedanken sehe ich Hamilton, wie er seinen klitschnassen, triefenden Kopf durch den schmalen Spalt der Tür steckt, um mir zu sagen, dass ich ihn Damien nennen darf. Mein Herz schmerzt bei diesem Gedanken. Ich schnappe nach Luft und zwinge mich dazu, geradeaus zu schauen. Als ich jedoch an den Medaillen vorbeigehe, fällt mir das kleine Detail augenblicklich auf. Das Bild eines Mädchens im Jugendalter sticht mir sofort ins Auge. Sie grinst mich halbherzig an, als hätte jemand einen schlechten Witz gerissen, bevor er den Auslöser gedrückt hatte. Sie trägt ein schwarzes Band um den Hals, wie ein Hundehalsband. Die Fingernägel sind schwarz lackiert und die Schminke schmeichelt ihren grünen Augen. Die zarten Hände halten einen Tennisschläger.

  In der unteren Ecke des Bildes steht: Kyra Hamilton, 27.07.2012




The Rain Upon Us (Damien & Birdie - Trilogie #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt