Fourty-One

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Lini war mit ihrem Erfolg zufrieden. Zuerst hatte sie gar nicht wirklich damit gerechnet, dass ihre Eltern auf ihre Forderungen eingingen. Sie wusste, sie hatten immer ausreichend zu tun, um es mal gelinde auszudrücken. Dass sie ihre Paragraphenkenntnis ernst nahmen, nahm sie ihnen allerdings nicht ab. Sicher wussten sie, dass Lini niemals wirklich in Betracht gezogen hatte, irgendeinen gegen ihre Eltern zu benutzen.

Zwar fühlte sie sich wirklich vernachlässigt, aber in ihrem Inneren wusste sie genau: Ihre Eltern liebten sie und sie liebte ihre Eltern. Man musste nur wissen, wie man sie nahm. Lini grinste bei diesem Gedanken.

Das der ominöse Vertrag wirklich so gut war, wie er auf den ersten Blick aussah, war natürlich ein Grund, sich zu freuen. Doch da war noch etwas anderes, etwas Persönlicheres, etwas Intimes, was sie den Abend als gelungen betrachten ließ. Gelungen, aber auch verwirrend. Sie mochte Nialls Musik, sie mochte seine Art, die Welt zu sehen – bei dem Gedanken stutzte sie, durfte man bei Niall von Sehen sprechen? Ja, in dem Fall allemal. Ihre Gedanken schweiften ab.

Wie sollte man überhaupt mit jemandem umgehen, der ein Handicap hatte. Musste sie jedes Wort genau überlegen, musste sie auf jede unbedachte Äußerung achten und sie unterlassen? Wie sollte sie mit solch einer Person umgehen? Sie dachte an den Satz, den Niall gebrauchte:

„Ja, sind die denn alle blind?“

Sie hatten beide lachen müssen bei dieser Äußerung, doch was genau bedeutete das? Machte er sich über sich selbst lustig, und wenn ja, durfte sie so etwas auch sagen? Wäre er dann nicht verletzt und traurig?

Sie ließ den Gedanken sich ausbreiten. Schwenkte ihn hin und her, wie Butter in der Pfanne. Als sie sicher war, dass jede Stelle – im übertragenen Sinn – mit Butter bedeckt war, versuchte sie ein Resümee zu ziehen. Alle Gedanken, alle Für und alle Wider kamen immer zu demselben Ergebnis: Niall wollte nicht verhätschelt werden. Niall wollte ganz „normal“ behandelt werden. Er würde es merken, wenn man ihn mit Glaceehandschuhen anfasste und würde dann eine Mauer um sich ziehen und den Kontakt abbrechen.

„Himmel, ich habe ihn doch erst zweimal gesehen“,

dachte sie und legte die Stirn in Falten.

„Was macht mich da so sicher?“

Sie konnte sich die Frage nicht beantworten, aber sie wusste ganz genau, dass sie Recht hatte. Schon aus dem Grund, weil sie selbst so reagieren würde, so reagiert hatte in der Vergangenheit.

„Niall und ich sind uns ganz schön ähnlich.“

Doch stimmte das auch, oder war hier der Wunsch der Vater des Gedanken? Nein, sie war sich sicher. Ihr Verstand wollte Einwände geltend machen, doch ihr Herz bekam die Oberhand. Ihr Herz war sowieso der bessere Denker. Das hatte sie immer wieder festgestellt. Stundenlanges Nachdenken bereitete nur Kopfschmerzen, doch immer, wenn sie auf ihr Herz hörte, war alles gut gegangen. Ihr Herz war einfach besser in Leute beurteilen. Also hörte sie auch hier lieber auf ihr Herz.

Sie lauschte in sich hinein und war mit ihrem Ergebnis mehr als zufrieden. Sie fasste den Entschluss, dass sie mit Niall reden würde, wie mit jedem anderen Jungen auch.

Niall! Ihr Herz machte eine Sprung, so dass sie glaubte, es wolle Galopp reiten in ihrer Brust. Das war das Problem: Niall war nicht wie jeder andere Junge auch. Nicht seine Blindheit machte ihn zu etwas Besonderem, sondern seine Musik. Aber auch das stimmte nicht ganz, denn die Musik war nur die Ausdrucksform für sein Wesen. Und was sagte die Musik über ihn aus? Sensibel, nachdenklich, jemand, der die Dinge auf eine eigene Weise sah, ein Schuss Romantik, ein Schuss Verklärtheit und dann doch wieder ein einfacher, klarer Blick auf die Welt. Immer eingehüllt in ein Farbenmeer aus Klängen. Wenn sie seine Lieder hörte, war es, als könne sie Farben wahrnehmen, zu denen ihr Auge nicht in der Lage war. Niall und seine Musik. Es war jedes Mal wie ein Rausch, aus dem man nicht aufwachen wollte, denn immer wenn man aufwachte, waren die Farben verschwunden, war es, als wäre man aus dem warmen Bett unter die kalte Dusche gestellt worden. Die reale Welt erschien trostlos und unwirklich. Und dennoch war da etwas, was sich in der realen Welt fortsetzte. Etwas von der Hoffnung blieb und erwärmte einen unter der kalten Dusche der Wirklichkeit.

Hoffnung und Zuversicht blieben. Nicht so deutlich wie im Lied, doch viel mehr, als sonst jemals in der realen Welt. Nialls Musik war wie ein Zauber, wie reine Magie. Direkt aus einem wunderschönen Märchen in das Herz gepflanzt.

Sehnsüchtig dachte sie an die Musik, die sie so bezauberte, und doch war da noch mehr, viel mehr.

Sie wusste, sie liebte seine Musik, sie wusste, sie hatte seine Art schätzen gelernt, doch war es nur die Musik? War es nur dieser Traum, oder war da etwas, was auch in der realen Welt bestand hatte?

Ihr Herz schlug schneller. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre: Niall ohne Musik. Wäre sie dann dennoch so fasziniert von dem Jungen? Hätte sie auch dann ihr Bein an das seine geschmiegt? Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, so etwas zu tun? Es war doch sonst nicht ihre Art. Doch sie hatte nicht gedacht, sie hatte nur auf ihr Herz gehört. Sie wusste einfach, dass sie diese Berührung wollte und sie hoffte inständig, dass auch er es wollte. Konnte sie sich da sicher sein? Immerhin hatte er bei der flüchtigen Berührung sein Bein sofort zurückgezogen. Hatte sie ihn mit ihrem Versuch, Nähe aufzubauen, erschreckt? Oder gar Schlimmeres? Nach einem kurzen Augenblick des Zweifelns kam sie zu dem Schluss, dass nichts davon zutraf. Er hatte die Möglichkeit, sich erneut zurückzuziehen, doch das hatte er nicht getan. Er wollte es wohl auch und war zuvor nur zu schüchtern gewesen, oder wollte nichts ohne ihr Einverständnis tun. Respekt, ja, es war eine Art Respekt, die er ihr erwiesen hatte. Noch ein Pluspunkt für ihn.

Nein, es war nicht die Musik, es war nicht das Mitleid, weil er blind war, es war einfach... das Wort wollte ihr nicht über die Lippen kommen, und auch den flüchtigen Gedanken schob sie schnell beiseite. Es war Freundschaft. Das Wort traf nicht annähernd ihre Gefühle für ihn, doch sie gab sich damit zufrieden – vorerst.

Feel With The Hearts Nơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ