Thirty-Five

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Niall lag an diesen Abend noch lange wach. Bilder schwirrten durch seinen Kopf. Ganz deutlich sah er eine Tankstelle vor sich, aber es war keine gewöhnliche Tankstelle, es war eine, an der keine Auto- sondern eine Menschenschlange stand. Es war eine völlig absurde Vorstellung und doch waren es seine eigenen Worte, die sie heraufbeschworen. Er grinste vor sich hin. Es hatte wohl auch seine Vorteile, blind zu sein, denn er konnte dadurch Bilder sehen, die andere nur in ihren Träumen sahen.

Seine Gedanken wanderten weiter. Vor seinem inneren Auge erschien jetzt ein Mädchen, ein trauriges Mädchen. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor, dann merkte er, dass es die Züge von Lini hatte. Doch warum stellte er sie sich traurig vor? Er dachte angestrengt nach, doch nichts hatte an diesem Abend darauf hingedeutet, dass sie traurig wäre.

War es einfach nur Einbildung, oder steckte mehr dahinter? Er versuchte, das Bild zu verändern, doch es gelang ihm nicht. Sonst war es eine seiner leichtesten Übungen. Er konnte Gesichter heraufbeschwören und dann ihre Züge so verändern, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Traurige Gesichter, nachdenkliche Gesichter, fröhliche Gesichter, sogar zornige konnte er sehen. Doch das meist nur, wenn er an seine Eltern dachte und er vorher etwas angestellt hatte. Manchmal waren diese Gesichter auch sorgenvoll.

Seine Eltern hatten damals, als er krank wurde, versucht, sie vor ihm zu verstecken. Doch er sah sie dennoch, die Sorgenfalten, die unterdrückten Tränen, die Blicke, wenn sie dachten, er sehe sie nicht. Doch er sah sie. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht, was sie bedeuteten, wusste nicht, dass er der Auslöser war. Zumindest nicht bewusst. Doch sein Herz hatte erkannt, dass er sehr lieb sein musste, um seine Eltern nicht noch mehr zu ängstigen. Und dann, wenn sie nicht hinsahen, kamen seine Tränen. Nicht wegen seiner Krankheit, nicht, weil er blind werden sollte – das begriff er gar nicht wirklich, hatte es auch heute noch nicht wirklich begriffen, sondern nur akzeptiert – nein, er weinte um seine Eltern, die ihre Fröhlichkeit verloren hatten. Ein tiefer Kummer erfasste damals sein kleines Herz, doch er wusste, er durfte ihn nicht seinen Eltern zeigen, musste still für sich einsame Tränen weinen und wenn seine Eltern ihn sahen, dann sahen sie nur das lachende Kind, den fröhlichen Jungen.

Manchmal huschte dann ein Lächeln über die traurigen Gesichter und sie freuten sich mit ihm, stimmten in sein Lachen mit ein, das er sich so mühsam aufzwang, doch er wusste genau, es musste sein. Für seine Mutter, für seinen Vater und auch für Jonathan.

Niall hatte zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Vorstellung, wie ein Arzt zu sein hatte. Wusste nicht, dass ein Arzt immer professionell sein und seine eigenen Gefühle verbergen musste. Jonathan war nie so gewesen und er war der einzige Arzt, an den Niall sich erinnerte. Ein Doktor und ein Freund und nun eigentlich mehr Freund, als Arzt. Sicher, er untersuchte ihn noch von Zeit zu Zeit, doch er war nie ein Fremder, er war immer sein Freund aus Kindertagen.

Und er war, wie seine Eltern auch, darauf bedacht, seine Traurigkeit zu verstecken. Hatte immer einen Scherz parat und alberte mit ihm herum, wenn es die Untersuchungen zuließen.

Mehr Freunde hatte er nie gehabt in seinem Leben. Seine Eltern und Jonathan. Bei all den anderen Menschen wusste er nie genau, was sie fühlten, wusste nicht, wann sie Masken trugen und wann sie es ehrlich meinten. Sie konnten freundlich zu ihm sein, doch Niall war immer ein wenig misstrauisch.

Und nun war da Lini. Das unbekannte Mädchen, das seine Mutter eingeladen hatte. Ihr gegenüber war er nicht misstrauisch, ihr gegenüber war er offen. Sie schien ihn zu verstehen und er verstand sie. Er wusste, sie log nicht, wenn sie über seine Musik sprach und über die Gefühle, die sie erlebte, wenn sie ihm zuhörte, wie er sang. Einem Arzt war man ein bisschen ausgeliefert, man hatte keine Chance, sich von ihm zurückzuziehen. Nicht als Kind. Bei Lini hätte er die Chance gehabt, doch der Gedanke war ihm nicht gekommen, nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, er genoss ihre Nähe, ihre Stimme, ihr zartes Parfüm hüllte sie ein. Es war kein Duft, der aufdringlich war, keiner von den Schweren, die einem Übelkeit bereiteten, es war wie ein Hauch von Frühling, der sie umgab. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie sonst hätte riechen sollen. Sie hatte ernst geklungen, wenn sie mit ihm über seine Lieder sprach, doch niemals traurig.

Wieso also sah er Lini traurig?

Er grübelte weiter. Spielte seine Fantasie ihm einen Streich? Gab es einen Grund, warum er wollte, dass sie traurig wäre? Wollte er sie trösten? Wollte er beruhigend auf sie einreden, ihr seine Lieder vorsingen, oder ein langsames Gitarrensolo? Ja, das wollte er, doch das war kein Grund, sie zu sehen, wie sie nicht war. Oder sah er sie so, wie sie in Wirklichkeit war, obwohl sie es vor ihm verbergen wollte? War es wie damals bei seinen Eltern? Spürte er etwas, was sonst keiner sah? Und er, der nicht sehen konnte, hatte die besseren Augen? Er wusste es nicht, er fand keine Antwort, solange er auch alle Argumente hin und her bewegte. Dann sagte er halblaut zu sich selbst:

„Sie ist mein Freund!“

Die Worte klangen in seinen Ohren fremd und falsch. Also versuchte er es anders:

„Ich bin ihr Freund!“

So kam ihm alles richtig vor. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass sie auch sein Freund sein wollte, doch er wusste es nicht hundertprozentig. Was er aber wusste war, dass er ihr Freund war.

Freund? Was bedeutet dieses Wort eigentlich? Freund... was war ein Freund?

Seine Eltern – nun das waren seine Eltern, freundliche Eltern, aber sie waren nicht das, was man einen Freund nannte, oder hatte er all diese Geschichten falsch verstanden, die er jemals gelesen hatte?

Jonathan? Ja, er war sein Freund, aber er war, wie nannte man das? Ein väterlicher Freund. Richtige Freunde waren gleichalt – mehr oder weniger – hatten dieselben Interessen, gingen durch Dick und Dünn und... waren Jungs! In all seinen Geschichten waren echte Freunde Jungs!

Dann schüttelte er den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Seine Mutter sprach doch auch von ihrer besten Freundin. Hmm. Wahrscheinlich hatte er einfach die falschen Bücher gelesen. Also noch einmal von vorne: Der beste Freund eines Jungen war ein Junge, der beste Freund eines Mädchens war ein Mädchen.

Gab es denn keine besten Freunde zwischen Mädchen und Jungs? Wahrscheinlich nicht, doch er war sich nicht sicher. Was blieb dann übrig? Sie hatte dieselben Interessen, mochte Musik – seine Musik – mit ihr konnte man reden und sie hatten fast dieselben Gedanken. Sie ist geblieben, als die Polizisten kamen, also geht sie auch durch Dick und Dünn mit einem. Also? Was blieb übrig?

Ihm fiel nur ein Begriff ein, doch den verwarf er auch schnell wieder. Was wollte ein Mädchen mit einem Blinden? Wie sollte er jemals für sie sorgen können, wie... er versuchte die Gedanken abzuschütteln.

Sie waren absurd, sie waren ein Wunschtraum, sie waren... völlig falsch. Nein, sie wollte einfach nur meine Musik und hat die Gelegenheit genutzt, die sich ihr bot. Die Musik war es, nicht er. Er lachte auf, aber es klang nicht fröhlich. Es wäre auch zu schön gewesen...

...Ich habe ein Herz, und ich habe eine Seele
Glaub mir, ich werde beides benutzen
Wir machten einen Anfang, einen falschen, ich weiß
Ich will mich nicht einsam fühlen...

Ein neues Lied formte sich in seinem Kopf und mit diesen Zeilen dämmerte er langsam in einen tiefen Schlaf hinüber und fand dort die Blume, die ihn traurig anblickte. In seinem Traum sagte die Blume:

„Lieber sterben und bei dir sein, als hier alleine verblühen.“

Doch es war nur ein Traum. In Träumen kann alles geschehen, dennoch rann bei diesen Worten eine Träne über seine Wange und fand den Weg auf sein Kissen. Das Kissen saugte die Träne begierig auf und als Niall am nächsten Morgen erwachte, war die Träne längst verdunstet, doch in seinem Kopf hallte noch die Stimme der Blume...

Feel With The Hearts Where stories live. Discover now