Thirty

344 53 15
                                    

Das Abendessen verlief etwas anders als sonst. Statt sich pausenlos mit Jonathan zu unterhalten, unterhielt sich Niall fast ausschließlich mit Lini.

Zuerst war der Arzt ein bisschen irritiert, doch bald hatte er sich daran gewöhnt und beobachtete die beiden amüsiert.

„Nach dem Konzert würde ich gerne noch mit euch allen sprechen und einen Freund von mir vorstellen.“

„Sag doch nicht Konzert. Das klingt so... na ich weiß nicht. Niall spielt doch nur auf seiner Gitarre und singt ein bisschen.“

Mr Horan machte ein zerknirschtes Gesicht. Noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt, dass eine Menschentraube vor seinem Vorgarten stand und zuhörte, wie sein Sohn sang.
Mrs Horan sah den Arzt ein bisschen misstrauisch an.

„Was für ein Freund?“

„Lass dich überraschen. Ich habe da einen Vorschlag zu machen – aber dazu später. Das Essen war mal wieder köstlich.“

„Lenk nicht ab!“

„Ich lenke nicht ab. Das Essen war köstlich. Das Einzige, was mir jetzt noch fehlen würde,...“

Mrs Horan grinste.

„Steht schon parat. Ich hole es gleich.“

„Ich verstehe meine Kollegen aus den vergangenen Jahrhunderten immer besser. Die haben auch statt Geld Unmengen zu essen bekommen. Allerdings bekamen die vor allem Eier. Ich bin doppelt gut dran. Ich werde bezahlt und bekomme noch Bananen.“

„Ja“,

sagte Mr Horan.

„Welches Tier bevorzugte noch Bananen?“

Niall lachte, es war ein alter Scherz seines Vaters, doch er fand ihn immer noch lustig. Lini schaute eher verwirrt, doch da keiner böse reagierte, stimmte sie in das Lachen ihres neuen Freundes mit ein.
Als der Nachtisch verdrückt war, entschied Mrs Horan:

„Lasst alles stehen und liegen. Abräumen können wir später. Gehen wir jetzt auf die Terrasse.“

Dagegen hatte keiner etwas einzuwenden.

Der Abend verlief zunächst wie viele vorher. Niall stimmte seine Gitarre kurz und begann dann mit den ersten Akkorden. Wie ein Bach, der vorüberplätscherte, spielte er einzelne Melodien an. Jonathan Meyer war noch immer fasziniert über die Vielfalt der Töne, die der Junge dem Instrument entlockte. Er benutzte schon wieder Griffe, die er selbst nicht kannte, deren Klang aber so war, als spiele er nicht mit den Saiten eines Instrumentes, sondern mit den Strängen seiner Nerven und seiner Seele als Klangkörper.

Schließlich legte der Junge die flache Hand auf die Saiten und begann dann, sein erstes Lied zu spielen.

Es war neu für den Arzt und er lauschte aufmerksam. Nach einer kurzen Weile, in der nur die Töne der Gitarre erklangen, begann Niall zu singen. Warm und leise zunächst, doch seine Stimme wuchs an und bildete den perfekten Gleichklang mit seinem Instrument. Im ersten Moment dachte der Arzt noch, dass die Bezeichnung Junge wohl nicht mehr zuträfe, denn die Stimme hatte nichts Kindliches an sich, doch dann tauchte er ein in eine Welt, die er noch nie gesehen hatte. Mit jedem Ton und jedem Wort führte Niall ihn in ein unbekanntes Land. Voll Frieden und Harmonie, voll Hoffnung und Zuversicht. Farben entstanden vor seinem inneren Auge, die es so in der nüchternen Welt, die er für gewöhnlich bewohnte, nicht gab.

Passend waren sie zu den unbekannten Tönen und sein Gehirn vermochte ihnen keine Namen zu geben, doch statt darüber nachzudenken und zu grübeln, war es ihm genug, sie zu betrachten und zuzuhören. Er ließ sich fallen, getragen von Tönen, die er nie gehört hatte, und schwebend durchreiste er das unbekannte Land.

Hätte man ihn nach dem Lied, nach dessen Inhalt gefragt, er hätte nicht antworten können. Er hätte nicht einmal gewusst, was der Fragesteller meinte. Es war wie ein Bild in einem Traum. Im Traum selbst war es selbstverständlich, im Traum selbst konnte es gar nicht anders sein, doch wach konnte man es nicht greifen, nicht beschreiben, nicht einmal erklären, warum es im Traum einen Sinn ergab. Wer es kannte, wusste es, wer es nicht kannte, würde es niemals verstehen. Die menschliche Sprache war nicht geschaffen für solche Bilder, für solche Töne und dennoch hatte Niall einen Text dazu gesungen. Doch waren es einfache Worte gewesen, oder magische? War es ein Zauber, der um die Zuhörer gewebt wurde? Doch er sah, als er sich nach dem Verklingen des letzten Akkordes umsah, dass auch die anderen Zuhörer nur langsam in die Wirklichkeit zurückfanden.

Massenhypnose?

Als sein Blick auf das Mädchen fiel, welches ihm als Lini vorgestellt wurde, sah er, dass die Augen feucht schimmerten, doch sie sah nicht traurig aus, nicht bedrückt. Es war vielmehr der Schmerz, den man erlebte, wenn ein Traum vorbei war, in dem man sich zu Hause gefühlt hatte und man Sehnsucht verspürte, erneut einzutauchen und dort zu verweilen.

Dann merkte er, dass auch seine Augen das Lied nicht unbeschadet überstanden hatten. Doch er schämte sich nicht, es machte ihn nicht verlegen und er versuchte sie nicht zu verbergen. Es war eher Stolz, was er verspürte. Stolz darauf, es selbst miterlebt zu haben. Dazuzugehören, Teil von etwas Größerem zu sein. Teil einer Familie zu sein, die aus all diesen Menschen rundherum bestand. Wildfremde, doch verbunden durch Nialls Musik.

Diese Gedanken kamen ihm nicht in dieser Reihenfolge, nicht einmal genau mit diesen Worten. Es war eher wie ein Gefühl, das ihn durchströmte. Nicht einzelne Worte, sondern eher Sätze, wie ein Block, den er auf einmal dachte und doch wusste er genau, dass es so war und hätte er dieses Gefühl beschreiben müssen, er hätte Seiten um Seiten vollschreiben müssen. Ganze Bücher hätte er damit füllen können. Doch das wollte er gar nicht. Er wollte nur eines: Das nächste Lied hören.

Und Niall tat ihm den Gefallen.

Feel With The Hearts Où les histoires vivent. Découvrez maintenant