0815 Beziehung

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Während wir im ganzen Haus hören wie Kyle seine Sachen hinschmeisst schreit Chris: „Ja, wir sind hier oben." Sie schaut mich einmal prüfend an und sagt dann leise, so dass nur ich es höre: „Willst du gleich mit ihm sprechen?" Will ich das überhaupt? Ich meine, ich war bis vor zehn Minuten sehr verwirt, doch das hat sich gerade ins unermessliche gesteigert. Warum zum Teufel malt er ein Bild von meinen Augen, in schwarz-weiss, wo er doch nur mit mir gespielt hat? Okay, eins ist klar, viel verwirrter kann ich nicht mehr werden, also sage ich: „Ja, ich denke, dass ist das Beste, aber ich will dich nicht rausschmeissen oder so, ich meine, du wohnst auch hier. Hatst du eine Idee?" Sie schaut mich prüfend an und sagt dann: „Ich hab eh noch etwas bei Lucas vergessen, ich geh es eben holen und komme dann später wieder. Vielleicht schaue ich ja noch einen Film mit ihm." Dabei zwinkert sie mir kurz zu. „Wir wissen beide, dass du nichts vergessen hast, oder?" frage ich sie dann schmunzelnd. Sie ist schon auf dem Weg zur Tür, dreht sich nochmal um und sagt: „Jap, aber Kyle nicht."

Während Chris runter geht, um ihrem Cousin zu sagen, dass sie eben noch schnell bei ihrem Freund ist und ich in der Zeit schon mit unseren Aufgaben anfange – jap, genau die, welche ich heute schon gemacht habe - sitze ich in ihrem Zimmer und probiere in normalem Tempo zu atmen. Scheisse, bin ich aufgeregt. Wie soll ich anfangen? Gleich mit der Wahrheit auf den Tisch oder zuerst etwas über das Wetter reden? Als ob er mit dir über das Wetter reden würde, er redet erst dann, wenn er weiss, dass du hinter seine Maske geblickt hast. Jetzt erst fällt es mir auf: Heute schon den ganzen Tag. Das war nicht der Kyle, der Angst hat, dass mir das Date nicht gefällt und auch nicht der Kyle, der das Gefühl hat, er sei am Tod seiner Mutter schuld. Nein, das war Kyle, der Bad Boy. Die Maske, die er so oft zum Schutz gebraucht hat, dass es schwer ist, sie wieder ab zu legen.

Neben mir höre ich, wie eine Tür auf und zu geht. Was jetzt? Okay, einmal gut durchatmen und dann los. Mit schellen Schritten gehe ich zur Nachbartür und mache diese auf.
Kyle sitzt, oder besser gesagt liegt auf seinem Schreibtischstuhl und fährt erschrocken von seinem Handy nach oben. Müde schaut er mich an und sagt: „Was willst du, Rose?" Er schaut nicht mehr so kalt aus, beinahe kann man seine Gefühle durch seine Augen sehen. Es wirkt so, als hätte er keine Kraft mehr, sie zu verstecken. Glaubt mir, ich weiss genau, wie anstrengend es ist. „Rose, hör auf mich so anzustarren. Sag was du willst und dann geh." „Ich will eine Erklärung Kyle, eine richtige, das ist alles." Als ich das sage rafft sich Kyle auf. Bevor er antworten kann, sage ich schon. „Nein, hör auf, es bringt nichts, okay. Ich weiss genau, dass du dich jetzt bemühst, mir irgend eine Arschloch-Kyle Antwort zu geben. Ich habe keine Lust auf den Scheiss. Weist du, wie das ist? Du kommst in eine ganz neue Stadt und plötzlich siehst du deine Brüder wieder, alles was du die letzten zwei Jahre gedacht hast, stellt sich als riesige Lüge raus, die deine Eltern dir aufgetischt haben. Das erste riesen Durcheinander. Danach musst du dich mit allen Leuten in der Schule rumschlagen, die dir von vornherein eines auf beste Freundin machen, dir aber liebend gerne ein Messer in den Rücken rammen, weil sie das Gefühl haben, du nimmst ihnen Chancen bei Jungs weg. Und dazu musst du feststellen, dass der einzige fucking Typ, der es je geschafft hat, dass du dich vollständig und ohne jede Angst öffnest, noch falscher als der ganze Rest der Schule ist. Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich ans Spielfeld kam? Ich vermisse dich und mache mir Sorgen, ob ich irgendetwas falsch  gemacht habe, da du mir nicht schreibst. Mann, du hast mir sogar leid getan, weil du ja angeblich so viel Stress hattest. Aber sehr wahrscheinlich hattest du Stress, möglichst schnell Sandy klar zu machen, damit ja keiner das Gefühl hat, du seist sesshaft geworden. Weißt du, wie scheisse das ganze ist? Mann, Kyle, ich wünschte mir, ich wäre bei meinen Eltern geblieben. Es ist besser zu wissen, dass man nicht geliebt wird und selber nichts fühlt, als sich in jemanden zu verlieben der zu grosse Angst vor dem Leben hat, um seine Gefühle zu zeigen und stattdessen einfach mit allen spielt. Denkst du, deine Mutter hätte Freude zu sehen, wie du einer nach der anderen das Herz brichst? Und ja, sogar Barbie hat ein Herz. Glaub mir, langsam verstehe ich, was auf dem Grabstein steht."

Rose, aber Rosalie für euch! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt