9 - Das Leben ist so schön

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[Louis]

Es dauerte lange, sehr lange bis er die Umarmung wieder löste. Meine Arme fanden ihren Weg und schlangen sich zaghaft um seine Taille, während er mit einer Hand meinen Rücken auf und ab strich und ich meinen Kopf gegen seine Schulter lehnte. Ich hatte das Gefühl dass ich diese Nähe brauchte. Allerdings wünschte ich mir auch gleichzeitig, dass es meine Mom wäre, die mir diese Nähe gab. Er löste sich nach einer Weile und strich mir noch einmal über den Kopf. "Der Tee wird fertig sein. Lass ihn uns trinken." schlug er mit sanfter Tonlage vor und ich nickte und senkte den Blick wieder, während ich die Tasse in die Hand nahm und einen Schluck daraus trank.
Harry tat es mir gleich und ließ sich mir gegenüber nieder. "Ich habe Kelly angerufen. Ich habe sie beruhigt und ihr gesagt dass dein Dad sich beim Kochen geschnitten hat. Sie hat es mir abgenommen." erklärte er.

Fragend sah ich ihn an. "Du musst deine Freundin nicht für mich anlügen."
"Was hätte ich sonst tun sollen?" sagte er schlicht und ich nickte. Er hatte recht. "Danke." murmelte ich bedrückt und er nickte. "Ich hab dir doch gesagt, ich bin da wenn du was brauchst. Dachtest du ich meine das nicht ernst?"

"Ehrlich gesagt nicht." antwortete ich schlicht und er beobachtete mich. Auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte während er mich musterte und ich fühlte mich unwohl unter seinen Blicken. "Seit wann hat er den Tumor?"
Ich schluckte. Eigentlich wollte ich ihm davon nichts erzählen. Er war mir schließlich fremd. Aber gleichzeitig wollte ich es auch, denn ich hatte hier niemanden zum reden. Kelly traute ich zu, dass sie so etwas sofort den anderen in der Gruppe erzählen würde. Harry kam mir vor wie jemand der genau das nicht tun würde.
"Vor zweieinhalb Jahren waren wir bei einem Picknick. Nur Dad und ich. Meine Mom und er waren da schon getrennt. Wir waren in diesem kleinen Park etwas außerhalb von London." begann ich zu erzählen und bei der Erinnerung daran zog sich mein Magen etwas zusammen. "Wir haben sowas oft gemacht. An diesem Tag jedoch war es seltsam. Er klagte über Kopfschmerzen und war ziemlich ruhig. Als wir Volleyball spielten - das taten wir früher immer gemeinsam - schrie er plötzlich auf, sackte zu Boden und hielt sich den Kopf während er immer weiter schrie. Er hatte furchtbare Schmerzen und ich war überfordert. Die Leute um uns herum riefen den Krankenwagen. Im Krankenhaus dann kam die Diagnose." sprach ich leise und Harry hörte mir aufmerksam zu. Ich stellte die Tasse auf den Tresen zurück und sah zu ihm.

"Sie versprachen uns Heilung. Sie kam nie."

"Und das heute? War das sein erster Anfall dieser Art?" fragte Harry wieder nach und ich nickte. "Er hat viele Symptome. Müdigkeit, die starken Kopfschmerzen. Auch Nasenbluten. Einmal hat er sein Gedächtnis verloren. Aber heute...das war der schlimmste Anfall den ich je erlebt habe. Er wird beatmet im Moment." antwortete ich ehrlich und betroffen senkte der Lockenkopf vor mir den Blick. "Das tut mir sehr leid, Lou." flüsterte er und ich sah ihn wieder an. "Muss es dir nicht."
Bedrückt stand ich auf und stellte meine Tasse in die Spüle, warf den Teebeutel in den Müll und sah ihn an. "Danke dass du Kelly nichts sagt."
"Wie gesagt, es ist selbstverständlich. Mach dir darum keine Sorgen. Ich hab einen Vorschlag für dich." sagte er und stand ebenfalls auf. Ich spürte wie er sich hinter mich stellte und seine Tasse ebenfalls in die Spüle stellte neben meine.
"Und der wäre?" flüsterte ich angespannt.

"Ich weiß jetzt dein wahrscheinlich größtes Geheimnis. Ich möchte dir meines zeigen." sagte er leise und sanft und ich drehte mich leicht zu ihm und sah zu ihm hoch in seine Augen. "Das musst du nicht, Harry."

"Ich weiß. Ich will es aber. Also...kommst du mit mir?" fragte er und ich überlegte. Sollte ich mich tatsächlich jetzt darauf einlassen? Aber was würde es schon schaden?
Also nickte ich und er lächelte mich an. "Schön. Dann komm!" sprach er und griff nach meiner Hand. Seine langen Finger verbanden sich mit meinen und ein wenig erschrocken darüber blickte ich auf unsere Hände.
Sanft aber bestimmt zog er mich aus der Küche hinaus, löste die Hand wieder und zog seine Schuhe an, was ich ihm gleich tat. Ich schnappte mir meinen Pager und die Schlüssel und sah zu Harry, der fragend auf das kleine Gerät in meiner Hand schaute. "Pager. Dad oder die Ärzte können mich darüber anpiepen wenn etwas passiert." erklärte ich ihm und er nickte verstehend und öffnete die Tür.
Gemeinsam liefen wir nach unten zu seinem Auto und ich musterte ihn kurz. Eines war klar, ich hatte Harry von vornherein falsch eingeschätzt.
Wir setzten uns in seinen schwarzen SUV und ich musste mir eingestehen, dass ich ihn anfing zu mögen. Er war für mich da obwohl er es nicht musste, ich es nicht verlangt hatte. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass er das nur tat weil er vielleicht auf mich stand. Oder mich irgendwie rumkriegen wollte. Während er los fuhr sah ich zu ihm und er lächelte mich an.
"Tust du das weil du mich in's Bett bekommen willst?" fragte ich ohne nachzudenken und wurde knallrot. Sein fröhliches Lächeln verschwand und er sah einen Moment fassungslos zu mir. "Bitte was?" hauchte er und ich senkte den Blick. "Entschuldige...ich..." setzte ich an doch er unterbrach mich. "Schätzt du mich ernsthaft so ein? Klar bist du ein attraktiver Mann, ich meine, sieh dich an! Aber deine Situation würde ich niemals für meinen Vorteil nutzen! Ich bin kein Unmensch, Louis!" sprach er und ich sah wieder zu ihm, krallte dabei meine Hand in den Sicherheitsgurt. "Ich rede manchmal bevor ich denke. Es war wirklich nicht so gemeint." murmelte ich verlegen und er schüttelte den Kopf.
"Denk sowas bitte nicht. Ich gebe zu, nach gestern hätte ich dich gern nach einem Date gefragt. Die Zeit im Restaurant habe ich wirklich genossen. Aber ich bin nicht deshalb für dich da, weil ich dich rum bekommen will, Lou. Ich will dir einfach helfen. Ich mag dich irgendwie, auch wenn du verschlossen bist und niemals lächelst. Das treibe ich dir einfach aus und gut."

Ich sah ihn irritiert an, während er ruhig und selbstbewusst da saß und nach vorn schaute. "Du treibst es mir aus!?" wiederholte ich seine letzten Worte und er lachte leise auf und nickte. "Ja! Ich glaube du musst mal lernen richtig zu leben. Findest du nicht? Ich helfe dir dabei."
Ich konnte nicht fassen was er da gerade gesagt hatte. "Richtig zu leben!? Ist das dein Ernst?" sprach ich und er nickte wieder nur. "Harry, du weißt jetzt was mit meinem Dad ist! Wie soll man da richtig leben? Ich muss mich um ihn kümmern, ihn pflegen! Ich muss mein Studium bewältigen!" konterte ich aufgebracht und er seufzte.
"Und genau deshalb will ich dir helfen, Louis. Deshalb. Du bist jung, du solltest dich nicht nur um deinen Dad kümmern und studieren. Es gibt Zeiten dazwischen. Zeiten die du mit schönen Dingen verbringen kannst, Louis." widersprach er mir und ich schnappte ungläubig nach Luft. "Jetzt sag dagegen nichts. Lass dich nur darauf ein." fügte er hinzu und ich sah aus dem Fenster. Komplett überfordert mit dem was er sagte, blieb ich stumm und starrte auf die vorbeiziehenden Felder. Wir waren raus aus London gefahren.
Mir drängte sich die Frage auf, ob er recht hatte. Lebte ich nicht richtig? Noch nie in den letzten zwei Jahren hatte ich darüber nachgedacht. Ich hatte die Zeit nicht mehr gehabt. Alles drehte sich erst um meinen Dad, dann um meine Noten und meinen Schulabschluss und dann die Unibewerbungen. Ich hatte nie Zeit gehabt um mir über so etwas Gedanken zu machen.
Nach meiner letzten Beziehung war das für mich nie wieder ein Thema gewesen. Dan. Der Gedanke an ihn ließ mich schlucken und ich spannte mich leicht an. Ehe ich zu viel über ihn nachdenken konnte schüttelte ich den Kopf und sah zu ihm.

"Ich brauche das nicht." sagte ich leise und Harry lachte wieder auf. "Natürlich brauchst du das. Louis, das Leben ist so schön. Man sollte es genießen, egal welche Hürden es einem in den Weg legt. Man sollte das Leben in vollen Zügen leben." sagte er lächelnd und sah mich an, in seinen Augen blitzte etwas auf dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht definieren konnte. Heute, wenn ich darüber nachdenke, würde ich sagen es war Begeisterung. Begeisterung am Leben.
Ich gab es auf noch etwas darauf zu erwidern. Der Ausdruck in seinen Augen hatte mich verstummen lassen, fesselte mich und ich beobachtete wie er konzentriert fuhr, dabei immer ein Lächeln auf seinen vollen Lippen hatte.
Harry war erstaunlich. Auf eine Art faszinierte er mich, auch wenn ich sicher war dass er mir nichts zeigen konnte was mich wirklich begeistern würde.

Wir fuhren noch eine ganze Weile in der wir beide schwiegen, bis er in einer Ortschaft außerhalb von London an einem Haus hielt. Es war herunter gekommen, hatte dafür aber einen großen Garten in dem wild die Blumen wuchsen. Einige Schaukeln standen auf der Wiese, das Gras wuchs hoch und ich glaubte einen kleinen Sandkasten zu erkennen.
"Wo sind wir hier?" fragte ich sofort leise und er sah mich kurz an, ehe er die Tür öffnete und ausstieg. "Wirst du gleich sehen." antwortete er lächelnd und ich stieg ebenfalls aus.
Gemeinsam liefen wir auf den Eingang zu, als dieser schon aufgerissen wurde. Zwei kleine Mädchen kamen auf uns zu gerannt und ich wich ein Stück zurück aus Reflex. Doch sie interessierten sich kein Stück für mich. "Harry!" rief eines der kleinen Mädchen und schlang ihre dünnen Ärmchen um Harry's Hüfte, welcher sie sofort hochhob und an sich drückte. "Lilly!" rief er lachend aus und die Kleine kuschelte sich glücklich an ihn, während die zweite ihn umarmte und sich an ihn drückte. "Na ihr zwei? Wie gehts euch?" hörte ich ihn sanft sprechen, er strahlte und ließ das Mädchen welches Lilly ließ wieder herunter, die sofort nach seiner Hand griff. "Uns geht's gut!" antwortete sie strahlend und sah zu mir. "Wer ist das, Harry?" fragte sie neugierig und musterte mich.
Ich folgte der Szene mit verwirrtem Blick und sah nun zu Harry. "Das ist Louis, ein guter Freund von mir." antwortete er der Kleinen und sie nickte und lächelte mich an. Ihre braunen Haare umspielten ihr Gesicht und sie blitzte mich aus hellblauen Augen freundlich an. Das andere Mädchen kam schüchtern auf mich zu und sah zu mir hoch. Sie hatte grüne Augen, die halb unter einem fransigen Pony hervor stachen und ich sah sie etwas überfordert an. "Hallo. Ich bin Leslie." sprach sie mit glockenklarer Stimme.
"Hey." murmelte ich und sah wieder zu Harry der mich freundlich anlächelte.
"Kommst du rein, Harry? Charlotte wartet sicher schon auf dich!" hörte ich Lilly sagen, die Harry's Hand in ihre nahm und ihn versuchte zum Haus zu ziehen. Lachend lief er los und bedeutet mir zu folgen, was ich unsicher tat. Leslie folgte den beiden und so betrat ich kurz nach ihnen unsicher das Haus.

Sunshine •|• LS Where stories live. Discover now