14 - Herzklopfen

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[Louis]

Seine Lippen waren weich und warm, als sie mit meinen aufeinander trafen. Ich spürte dass er überrascht war, doch es dauerte nicht lange, dann erwiderte er meinen Kuss. Zum ersten Mal seit einigen Jahren fuhr eine Welle positiver Gefühle durch meinen Körper. Leise seufzte ich in den Kuss und als ich seine Hand an meiner Wange spürte, lehnte ich mich an ihn und schlang die Arme um seine Taille. Ich wollte mich einfach fallen lassen.
Der Lockenkopf zog mich noch näher an sich, die Stellen an denen er mich berührte kribbelten förmlich, mein Gehirn setzte jeden Gedanken aus.

Als er sich löste, musste ich erstmal mein Gleichgewicht finden und sah dann hoch zu ihm. Er sah mich mit überraschtem Blick an, seine Wangen waren gerötet.
„Wow..." sagte er heiser, seine Stimme noch rauer als vorher schon und ich wurde leicht rot und sah weg. Was auch immer er mir mir machte, es verwirrte mich und doch wollte ich überraschenderweise mehr.
„Denkst du, also..." fing ich an und überlegte, wie ich den Satz überhaupt beenden wollte.
„Ob wir von hier verschwinden sollten?"
Wieder schaute ich zu ihm und er lächelte mich an. Ich nickte überfordert, auch wenn das nicht die Frage war, die ich ihm stellen wollte. Tatsächlich war mir das noch gar nicht in den Sinn gekommen.
Dafür war es doch eindeutig noch zu früh.

Harry lachte und nahm meine Hand. „Schau nicht so erschrocken. Ich meinte dass wir zum Beispiel etwas essen gehen könnten."
Erleichtert atmete ich tief durch, nickte dann richtig. „Das klingt gut."
„Nicht, dass ich nicht das gern tun würde..." Er küsste mich kurz, „...aber das ist doch eindeutig zu früh."
Wieder wurde ich rot bei seinen Worten, was war nur mit mir los? Es war ewig her, dass mich jemand so in Verlegenheit brachte.
„Richtig." antwortete ich ihm leise.

„Jungs!" Kelly's hohe Stimme durchbrach den Moment und sie tauchte neben mir auf. Ihre Haare waren zerzaust, ihre Haut glänzte und das Getränk in ihrer Hand sah aus, als wären mindestens fünf verschiedene Alkoholsorten enthalten. Sie zog an dem Strohhalm und sah uns beide an. „Kommt ihr wieder tanzen? Ich will mit dir tanzen, Loulou!" Sie legte ihre Arme um mich und begann die Hüften zu bewegen. Kelly war unheimlich betrunken, ihre Nähe war mir unangenehm und der Spitzname...Loulou? Wir kannten uns doch nicht mal, was sollte das?
Ich nahm ihre Hände von mir und schob sie sanft von mir weg, doch sie kam mir wieder näher.
„Kannst du mir nicht verraten, wie man an dich rankommt? Ich würde mich so freuen wenn du zu uns gehören würdest..."
Stirnrunzelnd sah ich sie an, weil ich nicht verstand was sie überhaupt wollte.

Harry schritt ein, indem er den Arm um sie legte und sie von mir weg zog, mich angrinste und sagte: „Ach Kellybaby, er gehört doch schon längst zu uns. Lass ihn in Ruhe."
Kelly's Augen wurden groß und sie strahlte mich an. „Wirklich?"
Überfordert nickte ich leicht und zuckte mit den Schultern. „Äh...ja?"
„Na also!" Harry klatschte in die Hände und umarmte Kelly. „Die anderen sollen auf dich aufpassen. Lou und ich gehen jetzt einen Happen essen. Viel Spaß euch noch!"
Mit diesen Worten ergriff er meine Hand und zog mich sanft in Richtung Ausgang. Ich folgte ihm bereitwillig und winkte Kelly noch zu, atmete draußen erst einmal tief durch.
„Ist sie immer so?"
Harry lachte. „Auf jeden Fall. Aber sie meint es gut. Sie will unbedingt mit dir befreundet sein. Sie mag dich total." Er setzte sich in Bewegung und ich folgte ihm sofort.
„Ich versteh nicht, wieso. Ich bin doch nicht einmal nett zu ihr gewesen..." Ich musste zugeben, dass ich mich für diese Tatsache ein wenig schämte. Aber meine Probleme...
Abrupt blieb ich stehen.
Harry drehte sich zu mir fragend und ich riss die Augen auf. Panisch durchwühlte ich meine Taschen nach dem kleinen Gerät für Notfälle. „Mein Pager! Ich hab ihn verloren!"
„Beruhig dich, lass uns zuerst im Auto nachsehen." sagte Harry und ging sofort weiter zu seinem Wagen. Ich folgte ihm. Das hatte ich davon wenn ich aufhörte, mich auf das Wichtige zu konzentrieren.
Harry öffnete den Wagen und ich überprüfte hektisch die Rückbank. Ich fand ihn auf dem Boden, zog ihn heraus und prüfte das Gerät auf Nachrichten. Meine Atmung hatte sich verschnellert und als klar wurde, dass nichts darauf zu sehen war, versuchte ich die Tränen zu unterdrücken, die sich ihren Weg bahnten. Es gelang mir nicht so richtig.
Harry zog mich an sich und umarmte mich fest.
„Hey, alles gut. Es ist nichts passiert, siehst du? Alles ist okay und du musst dich nicht schlecht fühlen, nur weil du einmal Spaß hattest, Lou. Jeder Mensch auf der Welt verdient ein bisschen Spaß und Erholung. Du musst auch mal abschalten."
Seine sanfte Stimme beruhigte mich, ich vergrub mein Gesicht in seiner Jacke und atmete tief durch, wartete ab, bis die Panik wieder abebbte und als sie nach einigen Atemzügen verschwunden war, sah ich hoch zu Harry in seine Augen, wie so oft heute, weil es genau diese Augen waren, die mich ganz ruhig werden ließen. Sie strahlten etwas aus, dass ich jetzt noch nicht benennen konnte, da ich es nicht wusste.
Er lächelte. „Alles wieder gut?"
Ich nickte leicht. „Harry?"
„Ja?"
„Würdest du mich noch einmal küssen wollen?" fragte ich leise, unsicher ob ich nicht zu viel wollte.

Als Antwort legte er seine Hände an meine Wangen und zog mich in den mit Abstand zärtlichsten Kuss den ich in meinem Leben je erhalten hatte. Meine Knie wurden ganz weich und ich fürchtete, sie wurden nachgeben. Doch er zog mich so fest an sich, dass das nicht möglich gewesen wäre.

Als wir uns wieder voneinander lösten, konnte ich nicht anders, ich musste einfach lächeln. Es kam ganz einfach so, ohne dass ich darüber nachdenken konnte.
„Da ist es ja schon wieder..." flüsterte Harry.
„Was denn?"
„Dieses wundervolle Lächeln."

***

Eine Stunde später saßen wir gemeinsam in seinem Auto vor meiner Wohnung. Wir hatten uns jeder eine Portion Curry gekauft und die aßen wir nun, um den Abend ausklingen zu lassen. Ich musste zugeben, dass ein gewisser Teil von mir sich schlecht fühlte, weil ich hier mitten in der Nacht mit Harry saß und den Abend genoss, während mein Dad den Kampf seines Lebens führte. Doch ich musste auch daran denken, dass meine Mom immer wieder zu mir sagte, ich solle das Leben genießen. „Louis, niemand gibt dir verlorene Zeit zurück. Du musst das Beste draus machen und dich nicht dabei vergessen."
Nachdenklich sah ich zu Harry und fragte mich, ob sie damit doch recht hatte.
Er spürte meinen Blick und sah zu mir, lächelte sofort, natürlich. Wie immer. Harry lächelte einfach immer.

„Ich würde zu gern wissen, was in dem hübschen Kopf so vor sich geht."
Wieder wurde ich rot und schaute nach vorn. „Ich denke darüber nach, dass ich es nicht verdiene, glücklich zu sein, wenn mein Dad so eine Scheisse durchmachen muss."
Das war das erste Mal, dass ich das offen aussprach. Zu meiner Mutter könnte ich so etwas niemals sagen. Oder zu sonst irgendwem.

„Weißt du Lou, als meine Mom gestorben ist, dachte ich genauso wie du. Ich wollte gar nicht mehr leben. Ich kam in das Kinderheim, ich sah all die anderen Kinder, diese verlorenen Seelen. Und ich wollte einfach nur dass sich der Erdboden unter mir auftat und mich verschluckte." Er war ganz ruhig geworden und schaute nach vorn auf die menschenleere Straße.
„Irgendwann aber ist mir etwas aufgefallen."
„Und was?" fragte ich neugierig.
Er fing an leicht zu lächeln. „Je mehr man sich in seine eigenen Gedanken und seinen eigenen Kummer flüchtet, desto grauer wird die Welt um einen herum. Aber guck dich einfach mal um. Überall findet man schöne Dinge und sei es nur ein wunderschöner Baum, oder ein niedlicher Welpe. Es gibt einfach immer etwas, an dem man sich erfreuen kann. Als ich das verstanden habe, wurde es besser. Ich merkte dass es sich lohnte, das Leben anzupacken und zu genießen. Ich habe gelernt dass es viel mehr Spaß macht, wenn man lacht und positiv auf die Dinge zugeht."

Fast schon ehrfürchtig sah ich ihn an. Harry war erstaunlich.
„Du bist der einzigartigste Mensch, den ich jemals getroffen habe, Harry." Meine Stimme war leise und fast nur ein Flüstern.
Lächelnd sah er zu mir, hob seine Hand und streichelte über meine Wange, während er mir tief in die Augen sah. Mein Herz fühlte sich sonderbar leicht an, als er das tat. Also lehnte ich mein Gesicht in seine Hand
„Ich wünsche mir, dass du so richtig glücklich bist, Lou. Mit Herzklopfen und allem drum und dran."
Mein Herz machte einen so starken Hüpfer dass ich fast nach Luft schnappen musste. Ich glaubte immer noch nicht daran, dass ich so ein Glück, wie er es beschrieb, überhaupt verdient hatte. Doch das Gefühl dass er mir gab, war zu gut. Ich wollte nicht, dass es aufhörte.

„Heute ist der erste Tag seit langem, an dem ich mal abschalten konnte. Ich danke dir dafür Harry."
Grinsend sah mich der Lockenkopf an.
„Ich will ja nicht frech sein, aber ich finde dafür habe ich einen Kuss verdient."
Wieder musste ich lächeln, schnappte mir die Boxen mit dem Essen, stellte sie auf das Armaturenbrett und lehnte mich dann zu Harry, um meine Lippen zum vierten Mal heute mit seinen zu verbinden.

Sunshine •|• LS Where stories live. Discover now