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~Virgilia~

Es vergingen weitere Nächte, in denen ich ängstlich im Bett wach lag und darauf wartete, das etwas geschah. Aber es passierte nichts. Und langsam begann ich an meinem eigenen Verstand zu zweifeln. Hatte ich mir alles bloß eingebildet? Hatten Tori, Benjamin und Dana die Gunst der Stunde genutzt und waren abgehauen? Die Vorstellung, dass Tori gerade am Strand von Nizza lag, einen Cocktail schlüferte und dabei einem gutaussehenden Franzosen hinterher sah, war weitaus schöner als die, dass sie tot in diesem schaurigen Wald lag, m verwesen, am vergammeln. Ich glaube, sie hätte gewollt, dass man sie nach ihrem Tod verbrennt. Die Vorstellung irgendwann als  hässliches matschiges Ding zu enden, hatte ihr noch nie besonders gefallen. Und was war mit Benjamin und Dana? Dana hätte keinen Grund gehabt abzuhauen, obwohl, an Benjamins Seite... Stopp! Ich durfte nicht weiterdenken. Mit diesem Wunschdenken würde ich nur die Wahrheit leugnen. Das wars's. 

Benjamins Eltern, wenn man sie so nennen konnte, veranstalteten an diesem Abend eine kleine Trauerfeier. Ganz Wintermoor ging davon aus, dass sie in dem Wald gestorben sind. Ich war mir nicht sicher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie nicht mehr lebten. Ich hatte die Befürchtung, dass meine Erinnerungen keine Halluzinationen waren. Mein Vater und Agatha begleiteten mich zu der Feier. Ich wollte Agatha nicht dabei haben. Sie gingen vor mir, Hand in Hand, ich schlenderte hinter ihnen her, meine Hände in den Hosentaschen vergruben. Ich kam mir vor wie ein bockiges Kind, wie ein nörgeliger Teenager, aber ich konnte einach nicht zufrieden sein. Das Haus, in dem Benjamin gewohnt hatte, lag nur drei Querstraßen von meinem entfernt. Und ich habe mich dort immer wohlgefühlt. Als ich klingelte und die Tür öffnete, hatte ich für einen Moment geglaubt, Benjamin würde die Tür öffnen. Aber es war seine Mutter, die dürre, schüchterne Liz. 

„Hallo Liz, mein Beileid", verkündete ich bedauernd.
„Kein Beileid. Kommt herein, wir haben dringend etwas zu besprechen." Sie winkte uns ins Haus und schloss sie gleich hinter uns. Sie forderte uns auf die Schuhe auszuziehen und nahm uns unsere Jacken ab.
„Kommt schon herein, wir warten schon auf euch", kam es aus dem Wohnzimmer. Benjamins Vater.
Virgilia war zwar erst auf einer Trauerfeier, und zwar die von ihrer Mutter, aber die lief ganz anders ab, als diese hier.

Schwarz. Mein Kleid war so schwarz, als hielte man die dunkle Nacht darin gefangen. Mein Atem ging schwer, es tat weh zu schlucken. Überhaupt tat alles weh. Ich konnte nicht einmal denken, ohne, dass es schmerzte. Mein Herz blutete bei dem Gedanken an sie.
Aus dem Wohnzimmer drang leise Klaviermusik, die Mama so geliebt hatte. Ich versuchte nicht zu weinen, ich hoffte auf Erlösung, die ich nie fand. Ich wollte diese Trauerfeier nicht, ich fühlte mich nicht stark genug, um jeden einzelnen der Trauergemeinschaft in die Augen zu sehen. Denn in ihren Augen würde Mitleid stehen. Groß und fett geschrieben und doppelt unterstrichen.
Die Tür öffnete sich. Tori stand darin, in einem roten Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Sie wollte damals schon immer aus der Reihe tanzen.
„Die ersten Gäste kommen, Kleines. Es ist Zeit  
Hallo zu sagen und Danke und  Machen Sie sich keine Sorgen, ich stehe das durch." Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest. Sie griff in ihren Ausschnitte und angelte ein Tütchen mit LSD heraus. Und ich nahm es, nahm es um die Schmerzen auszuhalten. Und so schaffte ich es, und auch nur so, mir von allen Gäste ihr Beileid anzuhören. Sie waren traurig, schwarz gekleidet und manche von ihnen hatten auch Tränen in den Augen. Ich war höflich zu ihnen, aber ich hasste sie alle. In diesem Moment und von da an hasste ich Wintermoor und jeden der darin lebte. Nur Tori hasste ich nicht und Benjamin auch nicht.

„Wir haben zwei unserer Kinder verloren", begann Benjamins Vater Jakob und wurde gleich von seiner Frau unterbrochen, die klarstellte, dass drei Kinder gestorben sind, „Ja. Drei junge Menschen sind dem Wald und dem kalten Geschöpf des Teufels zum Opfer gefall, es wird Zeit, dass wir etwas tun"
„Ja, genau, wir haben es uns lang genug tatenlos angesehen", stimmte ihm ein anderer zu, es war der Bäcker, bei dem ihre Mutter früher immer die Brötchen gekauft hatte. Und so entstand eine angeregte Diskussion, aber ich hörte nur mit einem Ohr zu, ich wollte an Benjamin denken, weswegen ich ursprünglich hergekommen war. Ich dachte an unsere erste Begegnung in der fünften Klasse, unseren Kuss, den wir allen verschwiegen haben, selbst Tori wusste es nicht. Es war damals bei dem Fußballturnier in der Schule, wir waren in einem Team, haben gewonnen und ich war die letzte in der Umkleide, er kam herein und wir haben uns unterhalten. Wir verstanden uns so gut und da hatte er mich geküsst, einfach so, mitten in unserem Gespräch. Es war mein erster Kuss, seiner auch und er sagte, dass es ihm wichtig sei, seinen ersten Kuss der richtigen zu schenken und da er selber wusste, dass er sehr schnell dumme Entscheidungen traf, wollte er nicht mehr warten. Es war unser erster und letzter Kuss.

„Wir brennen den Wald nieder", hörte ich mich sagen.
Alle Augenpaare richteten sich auf mich. Ich schluckte. 


Twixt beauty & darknessWhere stories live. Discover now