Kapitel 6

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PoV Tim

Ich lag hellwach im Bett. Kurz vorher waren Stimmen im Flur zu hören, eine davon war eindeutig Stegis, die andere Stimme war eindeutig weiblich. Ich spürte Enttäuschung in mir aufkochen, war es Stegi wichtiger, irgendeine Frau abzuschleppen, als für seine Freunde da zu sein? Mein Handy hatte ich, nachdem ich mehrfach versucht hatte Stegi zu erreichen, an das Ende meines Bettes geworfen. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, einschlafen schien mir unmöglich. Meine Gedanken rannten durch meinen Kopf, ließen es nicht zu, dass ich zur Ruhe kam. Ich dachte sowohl darüber nach, ob ich das Tagebuch lesen wollte, als auch über Stegi. Ursprünglich wollte ich ihn fragen, ob er mich nach Hause begleiten würde, obwohl ich mir nicht mal sicher war, ob ich wirklich nach Hause fahren wollte. Das würde die Wunden nur erneut komplett aufreißen, die Bilder in meinem Kopf wieder mehr verdeutlichen. Es war nicht so, dass ich die Bilder hier nicht mehr sah, doch sie verblassten von Tag zu Tag mehr und ich hatte Angst davor, dass sie stärker zurückkommen würden. Das würde ich nicht aushalten.

Meine Armbanduhr verriet mir, dass ich mittlerweile seit vier Stunden schlaflos im Bett lag, als sich im Flur etwas regte. Als sich die Tür zu unserem Zimmer öffnete, stellte ich mich schlafend. Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Minimal hielt ich meine Augen geöffnet und in meinem Sichtfeld erschienen Rafi und Tobi. „Sei bloß still, nicht dass Tim aufwacht." Flüsterte Tobi. Rafi lag bereits im Bett, als Tobi erneut die stimme erhob: „Rutsch mal 'n Stück.. Hätte nicht gedacht, dass Stegi die Kleine direkt mit nach Hause nimmt" lachte er leise. Somit hatte ich Gewissheit und meine Enttäuschung, gepaart mit Wut, wuchs stetig. Kurze Zeit später vernahm ich gleichmäßiges atmen von Tobi und ein leises schnarchen von Rafi.

Da mir mein, so dachte ich, wohlverdienter schlaf heute nach wohl weiterhin verwährt bleiben würde, stand ich leise auf und zog mich an. Nachdem ich mich aus dem Zimmer und die Treppe runter geschlichen hatte, setzte ich mich auf den kalten Steinboden vor dem Wohngebäude. Am Horizont sah ich bereits die Sonne aufgehen, die den Himmel in ein sanftes Orange-rot tauchte. Meine Gedanken verstummten auch die nächste Zeit nicht. Würde es mir besser gehen, wenn ich wüsste, warum Cata sich das Leben genommen hatte? Oder würde ich mir noch mehr Vorwürfe machen, weil ich sie nicht aufhalten konnte? Weil ich ihr nicht helfen konnte? Näher kommende Schritte und Stimmen ließen mich aufschrecken und ich richtete meine Augen nach oben. Sichtbar angetrunkene Personen kamen auf mich zu. „Wer sitzt da denn so alleine rum?" vernahm ich eine weibliche Stimme und wendete meinen Blick ab. Es musste keiner von ihnen, wer auch immer sie waren, meine geröteten Augen sehen, geschweige denn meine Augenringe bis zum Kinn. „Das ist doch dieser neue, oder?" - „glaub schon.." Kurze Zeit später waren die Personen so nah, dass ich zumindest ihre Gesichter erkennen konnte. Eine von ihnen war diese Chrissy und eben diese richtete ihre Stimme an mich: „alles in Ordnung bei dir?" ich schnaubte belustigt und schüttelte den Kopf. Sie deutete ihren Freunden mit dir Hand, dass sie gehen sollten und nahm neben mir Platz. „Weißt du, manchmal hilft es, mit jemandem zu reden, den man nicht kennt." Fing sie an, ich unterbrach sie jedoch: „mir wird es weder helfen mit jemandem zu sprechen, den ich kenne, noch mit jemandem, den ich nicht kenne. Es gibt Dinge, da hilft alles sprechen nicht, durch Worte lassen sich Ereignisse und Taten nicht rückgängig machen." Sie legte ihren Kopf schief und schaute mich an. „Versuch es doch." Mein darauf folgendes lachen kling abfälliger, als es gemeint war. „Du musst nicht mit mir hier sitzen und dir meine Probleme aufladen lassen. Du kennst mich doch gar nicht." Sie legte eine Hand auf meinen Rücken und schaute mich bittend an. Ich seufzte, sie schien nicht aufzugeben. „Ich will nicht darüber reden, verstehst du? Ich will mich nicht auf die Vergangenheit fokussieren, ich will nach vorne schauen. Ich will jeden Tag sagen können, dass ich glücklich bin, dass ich so lebe, dass ich in 70 Jahren nichts bereuen kann. Das kann ich einfach momentan nicht. Wenn dir deine Vergangenheit im Weg steht und dir jedes Mal zeigt, dass du nicht so stark bist, wie du es immer dachtest, dass du an dem Verlust einer Person so stark zerbrechen kannst.." Ich spürte, wie sich Tränen in meinem Augen bildeten. Mit einem geflüsterten „scheiße.." erhob ich mich und drehte ihr den Rücken zu. Kurz darauf legte die ihre Arme um mich und drückte mich an Sie. Das kam mir alles so falsch vor, ich machte mir Vorwürfe, dass ich hier stand und mich von Chrissy trösten ließ, ich war sauer, weil ich durch den Tod von Cata unglaubliche Angst davor hatte, noch jemanden zu verlieren. Ich fühlte mich schlecht, weil ich sauer auf Stegi war, ich war sauer auf Silja, weil mir einbildete, Stegi wäre wegen ihr nicht für mich da und ich würde ihn durch sie verlieren.

Ich sank zu Boden und vergrub mein Gesicht in meinen Händen, ehe ich wieder Chrissys Arme fühlte, die mich festhielten. Sie streichelte mir über den Nacken und flüsterte mir beruhigende Worte zu: „Niemand sollte dich so runterziehen, dass du so unglücklich bist, verstehst du? Am wenigsten du selbst. Lass es nicht einfach passieren, wehr dich. Gegen alles, was dich runterzieht. Lass dir helfen. Du musst dir nicht von mir helfen lassen, auch wenn ich es gerne versuchen würde. Aber nimm Hilfe an. Lass dich nicht so hängen.."

„Du wärst doch sicherlich lieber gerade ganz woanders und nicht mitten in der Nacht mit irgendjemandem, dessen Namen du nicht einmal kennst, hier vorm Haus und hörst dir seine verkorkste Lebensgeschichte an.." murmelte ich. „Erstens: wäre ich gerade lieber woanders, hätte ich dich nicht angesprochen sondern wäre rein gegangen und zweitens: ich kenne deinen Namen genauso wie du meinen kennst, Tim." Überrascht sah ich sie an, ich fragte jedoch nicht nach, woher sie meinen Namen kannte.

Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und es war taghell. „Geh doch schlafen, ihr wart doch sicherlich bis eben feiern, oder nicht?" - „waren wir, aber ich lass dich nicht alleine hier sitzen, nicht in deinem Zustand."

Seit geraumer Zeit saßen wir nun schweigend nebeneinander und Chrissy streichelte mit dem Daumen über meine Hand, die sie seit einiger Zeit hielt. „Oh man.." entfuhr es mir und Chrissy sah mich fragend an. „Das hatte ich nicht geplant, als ich raus gegangen bin. Dass ich irgendwen treffe und dann Ewigkeiten aufhalte." - „Hey, ist doch alles gut, ich bin freiwillig hier. Verkauf dich nicht immer unter Wert, ich sitze hier gerne mit dir. Wenn auch unter eher seltsamen Umständen." flüsterte sie nah an meinem Ohr. Mittlerweile lag ihr Kopf auf meiner Schulter. Die ersten Mitschüler kamen aus dem Wohngebäude verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. Als ein weiteres Mal die Tür hinter uns aufging, kam Silja mit einem breiten Lächeln raus. „Hey Tim" rief sie fröhlich und startete einen Versuch mich zu umarmen, den ich allerdings abblockte. Etwas gekränkt sah sie mich an und setzte sich auf meine andere Seite. „Alles in Ordnung bei dir?" fragte sie gespielt besorgt, ich hatte nicht das Gefühl, es würde sie tatsächlich interessieren, wenn etwas nicht in Ordnung war. Ich nickte lediglich. „Ich muss jetzt los, drück Stegi von mir, wenn du ihn siehst, er hat eben noch geschlafen." sagte sie und ich schnaubte abfällig. Dieses Mal klang es genauso abfällig wie es gemeint war.

Was machst du nur mit mir? | Stexpert FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt