999 letzte Worte

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Da ich nicht nach Hause kann - schließlich wird in Kürze das Loft von der Polizei durchsucht werden, nachdem sie die Schattentänzer identifiziert und das Beweismaterial ausgewertet haben - gehe ich in den Park, in dem Yanto am Baum meditiert. Zwar haben sowohl Cassia als auch Sona mich eingeladen mitzukommen, doch ich brauche Zeit zum Nachdenken. Das konnten beide gut verstehen, auch wenn ich mir sicher bin, dass Cassia über das Drohnennetz auf mich aufpasst.

„Du wirkst verändert", sagt Yanto zur Begrüßung. Ich lächle matt. Ich trage mein übliches Monagesicht, mein Aussehen kann er also nicht meinen.

„Ich glaube ich habe heute viele Dinge verstanden", antworte ich und er nickt wissend.

„Ja, Einsicht ist die größte Veränderung, zu der wir fähig sind. Möchtest du mich daran teilhaben lassen?" Seine Worte klingen weder fordernd noch neugierig, sondern wie eine Einladung und ich spüre, dass ich sie annehmen will, also erzähle ich ihm alles. Von Kaz, von Finnick, von Leo und Dorrit, aber ich erzähle auch von Leandra und von Esteras Sorge um mich vor unserem Aufbruch. Ich erzähle ihm von Mako, der in dem Glauben gestorben ist, ich hätte ihn und seine Freunde verraten und davon, wie die Worte über die Zellstruktur es waren, die mich auf die Idee gebracht haben, dass ich mich heilen könnte. Schließlich beschreibe ich, wie ich, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren, weder wütend noch rachsüchtig bin.

„Eine umfassende Metamorphose kann diesen Effekt haben. Man heilt seine Verletzungen und verändert dabei nicht nur körperliche Wunden. Es ist, wie ich bereits sagte, eine umfassende Veränderung." Wir unterhalten uns noch eine Weile, Yanto bittet mich um Verzeihung, dass er mir nicht bereits früher genauer gesagt hat, dass die Veränderungen auch Heilungen beinhalten könnten, doch ich unterbreche ihn und erkläre, dass er nicht hätte wissen können, dass ich dieses Wissen brauchen würde. Er versucht noch eine Weile darauf zu bestehen und schließlich einigen wir uns darauf, dass ich hätte öfter zum Üben kommen sollen, damit er zu dem Punkt hätte kommen können.

„Was wirst du nun tun? Dir stehen alle Türen offen. Du kannst jetzt sein, wer du willst." Seine Worte erinnern mich an das, was Kaz als mein Geburtstagsgeschenk bezeichnet hat. Eine freie Entscheidung. Nur für dich.

Ich weiß noch nicht. Aber es wird sich sicher bald etwas ergeben", sage ich mit einem Optimismus, den ich momentan lediglich erahnen kann.

„Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Auch wenn deine Wunden nicht mehr da sind, brauchst du trotzdem Zeit, um zu heilen." Ich nicke.

Wir meditieren schweigend noch eine Weile, bis ich eine Nachricht über meinen Earpod bekomme und mich verabschiede, um mich auf den Weg zum Schlangenhauptquartier zu machen.

Dort versammelt sitzen die überlebenden Schlangen um Sona und einige Ratten um Cassia herum versammelt auf den zusammengewürfelten Sitzmöbeln und dem Boden und starren auf die Projektion der Nachrichten an der Wand. Ich lasse mich auf dem Boden am Rand nieder und verfolge gespannt die Berichterstattung.

„...eine Gruppe von Auftragsmördern, bewusstlos am Tatort aufgefunden. Nähere Umstände sind bisher nicht geklärt, aber uns liegen Informationen vor, dass jahrelang Morde durch öffentliche Gelder finanziert wurden. Einige Aufträge sollen vom Präsidenten persönlich unterschrieben worden sein. Zu den Vorwürfen hat er sich jedoch noch nicht geäußert. Außerdem ..."

Die weiteren Worte der Nachrichtensprecherin gehen in einem Applaus unter. Es ist tatsächlich vollbracht. Jemand wechselt den Kanal. Auch dort wird über den Vorfall und eine mögliche Regierungsverschwörung berichtet. Auf vielen anderen Kanälen sieht es ebenso aus. Jetzt wird es unmöglich, die Ermordung der Metamorphs weiterhin geheimzuhalten. Die Tatsache, dass ich an einigen dieser Morde beteiligt war, dämpft meine Freude ein wenig.

„Und jetzt geht unsere Arbeit erst so richtig los", seufzt Sona, die mit verbundenen Wunden in einem Sessel sitzt. Ich sehe sie an und lege den Kopf schief.

„Na, wir müssen dafür sorgen, dass die richtigen Politiker und Polizisten, Richter und Journalisten enttarnt und bestraft und durch rechtschaffene Leute ersetzt werden. Unser Datenarchiv der letzten Jahre ist dafür zwar ein guter Anfangspunkt, doch alle schwarzen Schafe aufzuspüren wird eine ganze Weile dauern." Was Sona sagt, ergibt Sinn. Es klingt vernünftig. Doch ich merke, dass ich daran nicht teilhaben will. Ich erkläre Sona, wie ich dazu stehe und sie versucht zunächst mich zu überreden. Loria und einige andere werfen immer wieder Argumente in den Raum, die mich umstimmen sollten, doch ich lasse mich nicht überzeugen. Als sie einsehen, dass meine Entscheidung feststeht, geben sie schließlich auf und wir überlegen gemeinsam, was ich stattdessen nun mit meinem Leben anfangen soll.

„Finnick-", ich stocke, weil es schmerzt, seinen Namen auszusprechen, doch ich überwinde mich und fahre fort: „-er hat mir mal gesagt, dass ihr Metamorphs aus der Stadt herausschleust. Könnte ich nicht zu ihnen gehen?" Vielleicht können wir später einmal wiederkommen. Vielleicht ändert sich dann meine Einstellung zu der Regierungsarbeit und ich werde mich daran beteiligen. Aber momentan will ich einfach weg.

„Nun, das wird sicherlich möglich sein. Es gibt eine versteckte Siedlung wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenze. Wenn du willst, kann ich dich heute noch dort hinbringen lassen." Heute noch. Wow. Das ist etwas überstürzt, da mich aber auch nichts hier hält, nicke ich.

Aus dem Fundus der Schlangen bekomme ich Wechselkleidung und einen Rucksack mit Proviant. Alles, was ich von meinen Sachen behalte, sind mein Earpod, meine Wurfmesser - ganz ohne Waffen fühle ich mich einfach nicht richtig angezogen - und die Kette mit der Speicherkarte. Ich habe kurz überlegt, sie wegzuschmeißen, sie zu zerstören oder sie Kaz als Geschenk ins Gefängnis zu schicken, doch ich kann mich einfach nicht davon trennen. Genauso wenig, wie ich meinen Augen eine andere Farbe als Kaz' Schwarzbraun verleihen kann. Du kannst mich nicht loswerden, höre ich sein Zetern in meinem Kopf. Doch vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit dazu. Ich modelliere den Rest meines Gesichts zu einer völlig neuen Maske und bin schließlich fertig, als ein großer, bärtiger Mann kommt, um mich abzuholen.

Gerade beginnt der Horizont mit dem ersten Morgenlicht zu schimmern, als ich meinen letzten Blick auf die Neonlichter von Colonia Nord werfe. Ich will die Stadt eigentlich nicht verlassen. Aber ich will auch wirklich nicht mehr kämpfen.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now