Wir hatten Glück

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Das blonde Mädchen trägt ein zerrissenes Kleid. Warum das Kleid zerrissen ist, will ich mir gar nicht vorstellen, sonst bereue ich noch, Collin schon getötet zu haben. Ihre großen blauen Augen schauen ängstlich aus ihrem verdreckten Gesicht heraus. Sie ist dünn.

Als der Rauch sich lichtet, öffne ich meine Maske und blicke mich in dem steinernen Raum um. Eine Matratze in der Ecke dient als Bett. Drumherum liegt fleckige Kleidung verstreut, außerdem Verpackungen von Fertiggerichten. In einem selbst aus Steinen und Brettern gezimmerten Regal stapeln sich Karten mit C-Coin-Guthaben. Die akkurate, saubere Aufreihung der Stapel steht in starkem Kontrast zu dem dreckigen und unaufgeräumten Zustand des restlichen Raums. In dem Regal befinden sich außerdem verschiedene Wertgegenstände von Schmuck über Elektrogeräte bis hin zu geschliffenen Edelsteinen. Ich hebe die Augenbrauen. Bandenchef zu sein lohnt sich offenbar. Mirea hat ebenfalls ihre Maske abgenommen. Vermutlich, um das immer noch in ihrem Griff befindliche Mädchen nicht weiter zu verängstigen. Sie sieht sich gerade nach mir um, um etwas zu sagen, als sich auch ihre Augen weiten.

„Packt so viel ein, wie ihr könnt und wir verschwinden. Die anderen müssten zum Aufräumen gleich hier sein. Sie werden den Rest dann mitnehmen", sagt sie ganz sachlich und lässt das Mädchen, das versichert, nicht abzuhauen, los, bevor sie zum Regal hinüberkommt. Ich lasse mich nicht zweimal bitten und beginne so viele der Guthabenkarten, wie in meine Jackentaschen passen, einzustecken. Ein besonders aufwendig gearbeitetes langes Messer fällt mir auf. Vermutlich antik. Ich schiebe es durch meinen Gürtel und nehme noch eine Handvoll Edelsteine aus dem Regal, die ich zwischen die Karten in meine Taschen rieseln lasse.

Mirea und Kaz haben das gleiche getan und wenden sich nun um, um zu gehen.

„Schneid der Kleinen noch die Fesseln durch. Ich habe ihre DNA-Probe genommen, die wird uns keine Probleme machen, weil wir ihr sonst welche machen", weist mich Mirea noch an, bevor sie nach Kaz durch die Tür tritt. Ich gehe zu dem Mädchen und zücke mein neues Messer, um ihr die Fesseln durchzuschneiden. Etwas an ihren großen Augen lässt mich aber innehalten. Ich denke darüber nach, dass mir auch so ein Leben bevorgestanden hätte, hätte Estera mich damals nicht gefunden. Ich erinnere mich genau, wie es war, bettelnd und stehlend den ganzen Tag durch die Stadt zu streifen, nie wissend, wann man die nächste Mahlzeit bekommen wird. Vor anderen wegzurennen, weil jeder einem etwas antun kann. Vielleicht ist dieses Mädchen einfach nicht schnell genug gerannt. Ohne darüber nachzudenken, schneide ich ihr nicht nur die Fesseln durch, sondern drücke ihr danach das Messer in die Hand. Sie nimmt es zitternd. Lässt es fast fallen. Ich vertraue darauf, dass Mirea Recht hat.

„Wie heißt du?", wispere ich und muss mein Ohr ganz nah zu ihrem Gesicht bringen, um sie zu verstehen, als sie „Cassia" flüstert. Ich nicke und greife kurz entschlossen noch einmal tief in meine Tasche, um ihr eine ganze Handvoll Guthabenkarten und Edelsteine zu geben.

„Pass damit auf", sage ich zu ihr und meine nicht nur das Messer. Ihre ohnehin schon großen Augen weiten sich noch mehr bei dem Vermögen, das ich ihr gerade geschenkt habe und sie nickt eifrig.

„Komm Cassia, du willst nicht sehen, was hier weiter passieren wird", wispere ich noch, bevor ich ihr eine Hand auf den Rücken lege, um sie nach draußen zu geleiten. Sie sieht mich noch einmal kurz an, flüstert mir ihren Dank zu und rennt flink wie eine Ratte davon.

Ich stoße zu Kaz und Mirea, die ein paar Schritte entfernt auf mich gewartet haben.

„Raus" ist alles, was Mirea zu mir sagt, bevor sie losrennt.

Beim Laufen denke ich an die Lebensumstände dieser Kinder und eine neue Art von Wut steigt in mir auf. Nicht nur auf die Mörder meiner Eltern, oder auf die Meister, die deren Identität vor mir verheimlichen, sondern auf das System als Ganzes. Was ist das für eine Stadt, die so darauf bedacht ist, Chancengleichheit und Sicherheit vorzuspiegeln, dass arme Kinder im Untergrund verschwinden müssen, um nicht verhaftet oder in die Trauma-Brutstätten, namens Waisenhäuser, gesteckt zu werden?

Irgendetwas in meinem Gesicht scheint meine düsteren Gedanken zu verraten, als wir durch den Tunnel rennen, denn Kaz keucht mir zu: „Wir hatten Glück." Ich verstehe, dass er nicht die Mission meint. Und er hat Recht. Manchmal vergesse ich, dass auch Kaz so ein Kind war. Dass auch er von der Straße kommt, weil ihn seine Mutter als kleinen Jungen vor einem Supermarkt hat stehen lassen und nie wiederkam, um ihn abzuholen. Wir hatten tatsächlich beide Glück.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now