Bist du jetzt zum Menschenfreund mutiert?

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Nach einigen Tagen sind die Blutergüsse, Prellungen und Platzwunden so weit abgeheilt, dass der Schmerz allmählich erträglich wird und ich mein Zimmer wieder verlassen kann. Nach einer Woche helfe ich bereits wieder bei täglichen Haushaltsaufgaben. Kaz gehe ich aus dem Weg. Und er mir scheinbar auch, da ich ihn noch nicht gesehen habe. Die anderen Schattentänzer sind natürlich viel unterwegs, sodass ich häufig alleine herumsitze. Das hat mich jedoch noch nie gestört. Freundschaften haben wir untereinander sowieso nicht. Ich verbringe viel Zeit auf der Terrasse, die durch ihr von außen verspiegeltes Glasgeländer sichtgeschützt ist. Am neunten Tag höre ich aus einem Loft unter unserem ein vertrautes Kichern. Die Mädchen unten sind tagsüber oft zu Hause, weil sie ähnlich wie wir Schattentänzer nachts arbeiten.

Sie sind Eskortdamen.

Ähnlich wie die Meister der Schattentänzer nimmt Viola, die Geschäftsführerin der Firma „Tigerlilie", die ihre Lilien an gut zahlende Männer - und Frauen - vermietet, ab und zu junge Mädchen und den ein oder anderen Jungen von der Straße auf. Der Nachwuchs lernt dann das Business im Rahmen einer umfänglichen Ausbildung kennen und fängt bei Erreichen der Volljährigkeit mit achtzehn Jahren an zu arbeiten. Bis auf wenige formale Anlässe hatte ich mit dem giggelnden Hühnerhaufen zum Glück nie viel zu tun. Mit ihrer Eitelkeit und ihren absurd weichen Körpern sind sie mir zuwider.

Ich verlasse die Terrasse, um etwas zu trinken, als Kaz um die Ecke kommt und wir fast zusammenstoßen. Wir schrecken beide hoch und verfallen augenblicklich in eine defensive Körperhaltung. Interessant. Ich verhalte mich defensiv, weil meine Verletzungen noch nicht so weit geheilt sind, dass ich mich schon wieder prügeln will. Ich habe schließlich heute erst angefangen, wieder ein wenig zu trainieren. Aber Kaz? Warum ist seine erste Reaktion, sich vor mir verteidigen zu wollen? Das ist es sonst nie. Ich bin neugierig und mustere ihn mit meinem besten Jägerblick. Und der ist schon ziemlich gut. Den Kopf leicht auf die Seite legend und die Beute fixierend. Kaz entspannt sich. Aber es sieht forciert aus. Als würde er sich dazu zwingen müssen, seinen Körper zu entspannen. Er streckt den Arm aus, um mir zu bedeuten, vorzugehen und ich setze mich in Bewegung, beobachte ihn jedoch bei meinen ersten Schritten weiter. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass ich ihn überrascht habe, wie er so unvorsichtig war. Ich setze dieses Verhalten auf die Liste der Dinge, über die ich in den nächsten Tagen nachdenken werde.

„Erst der gackernde Weibermob da unten und jetzt nervst du mich auch noch", versuche ich ihn anzublaffen, doch selbst in meinen Ohren klingt es halbherzig.

„Du solltest nicht so hart zu ihnen sein", erwidert er außergewöhnlich ruhig, fast sanft. Ich rolle genervt mit den Augen und setze zu einer Bemerkung an, als er etwas sagt, das mir irgendwie Einhalt gebietet: „Die Tigerlilien sind nicht besser dran als wir Schattentänzer. Wir sitzen alle im selben Boot."

„Bist du jetzt zum Menschenfreund mutiert? Kazimir der Frauenversteher?" Ich lege so viel Abscheu wie möglich in meine Stimme, doch provoziere nur ein kleines Kopfschütteln. Mit einer beleidigenden Geste, die andeutet, was er meinetwegen mit den leichten Mädchen machen soll, wenn er sich leisten kann, verabschiede ich mich und hole mir in der Küche das Getränk, für das ich überhaupt erst reingegangen bin. Anschließend setze ich mich zurück auf die Terrasse und schalte über meinen Earpod Musik ein, weil mir das alberne Giggeln von unten auf die Nerven geht. Dämliche Weiber. Die sollten mal so etwas durchmachen wie ich. Wobei sie wahrscheinlich am nächsten Tag durch künstliche Heilungsbeschleunigung wieder einsatzbereit wären und alle Prellungen perfekt überschminken würden. Lediglich die künstlichen Nägel oder die schönheitsoperierten Nasen müssten vielleicht wieder angeklebt werden.

Plötzlich habe ich eine Idee und springe so schnell von meinem Liegestuhl auf, dass ich danach vor Schmerz wieder hinuntersinke. Hastig mache ich mir via VR-Brille Notizen und beginne meine Recherche. Irgendwann bemerke ich, dass Kaz am Terrassengeländer steht. Ich scanne seine Haltung und Mimik von der Seite, um abzuschätzen, in welcher Laune er sich befindet. Er scheint nachdenklich. Zumindest ist er nicht hier, um mich zu ärgern. Gut. Denn dafür habe ich gerade keinen Nerv. Ich lese noch zwei Sätze zu Ende, bevor ich die VR-Brille einfahre und mich räuspere. Sein Profil verzieht sich zu einem kleinen Halblächeln. Nur weil ich ihn kenne, weiß ich, dass das Lächeln sich auf der anderen Seite des Gesichts nicht fortsetzt, auch ohne es zu sehen.

„Was willst du hier?", frage ich ihn irritiert.

„Dasselbe könnte ich dich fragen", war seine einzige Antwort.

„Aber ich war zuerst hier", schnauze ich ihn an, obwohl ich mir dabei kindisch vorkomme. Kaz dreht sich um, lehnt sich mit dem Rücken lässig an das Geländer und stützt sich mit den Ellbogen darauf. Er ist zu betont entspannt, als dass ich es ihm nach seiner Nervosität von vorhin abkaufen würde.

„Hast du schon eine Idee, wie es mit dir weitergehen kann?", fragt er mich im Plauderton.

„Das geht dich gar nichts an und das weißt du genau", spucke ich giftig aus. Kaz hebt eine Augenbraue und mustert mich. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, ihn nicht erkennen zu lassen, dass ich vorhin einen Geistesblitz hatte. Dass ich kurz davor bin, einen handfesten Plan zu haben. Das Grinsen, das sich auf Kaz' Gesicht ausbreitet, dürfte bedeuten, dass ich Erfolg habe und er mir hämisch die vermeintliche Ausweglosigkeit meiner Lage zeigen will. Ich presse die Lippen aufeinander, als wäre ich frustriert und wende meinen Blick scheinbar in Richtung Stadt.

Aus dem Augenwinkel behalte ich ihn im Auge, bis er sich wegdreht. Ich kann sein Gesicht jetzt nicht mehr sehen, doch seine lässige Körperhaltung mit den aufs Geländer gestützten Ellenbogen vermittelt eine Ruhe, die so gar nicht mit dem übereinstimmt, wie er sich vorhin verhalten hat. Entweder er strengt sich sehr an, um entspannt zu wirken, oder es hat sich etwas geändert. Da ich ihn nicht fragen kann, zumindest nicht, wenn ich eine wahrheitsgemäße Antwort erwarte und mein Gesicht wahren will, wende ich den Blick stattdessen in die Ferne.

Die Wolkenkratzer der Stadt erstrecken sich bis zum Horizont. Über viele der Häuser können wir aus dieser Höhe hinwegsehen, aber vor allem im Regierungsviertel sind die weißen Türme mit ihren verglasten und bepflanzten Fassaden wie ein Gebirge, das in den Himmel ragt. Momentan ist der Himmel klar, aber wenn dicke Regenwolken ihn bedecken, hüllen sie die Spitzen der höchsten Häuser in ihren wattigen Dunst ein.

Kaz' Earpod piept und reißt uns beide jäh aus unseren Gedanken. Er zuckt am Geländer zusammen und ich schrecke auf meiner Sonnenliege nach vorn, was mir wieder einen stechenden Schmerz durch Rücken und Rippen jagt. Mit einem Augenzwinkern verabschiedet er sich. Ich rolle mit den Augen und lasse mich zurücksinken.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now