Du steckst voller Überraschungen

9 6 0
                                    

Die Nacht verläuft wieder nach einem ähnlichen Muster: Kurz schlafen, mit Wecker aufwachen, so viel Gesicht transformieren, wie ich schaffe - mittlerweile sind es Nase, Kinn und Wangen - zu Yanto schleichen, um mit ihm zu üben - leider hat er noch keine verständliche Anleitung zum Verändern der Augenfarbe, aber er arbeitet dran - es sogar noch schaffen, die Stirn zu modifizieren, sodass ich das Maskenteil auch dort abnehmen kann und schließlich ins Arcadia gehen.

Dort ist heute wieder eine Quiznacht.

„Sona und Nyx sind unterwegs, um Mara aus der Stadt zu schaffen", erklärt mir Mako nach einer Umarmung durch seine bärigen Pranken und Loria fügt mit einem vielsagenden Lächeln hinzu, dass Finnick gleich wieder da sein wird. Ich gebe mir Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Nach zwei gewonnenen Quizrunden sitzt er plötzlich neben mir. Ich habe nicht bemerkt, dass er sich näherte. Mal wieder.

Er legt mir einen Arm um die Schultern und drückt mich an sich, um mir eine Begrüßung ins Ohr zu flüstern. Ich kichere. Eigentlich hasse ich mich gleichzeitig dafür, dass ich kichere, aber es ist die einzig passende Reaktion, die mein Körper zustande bringt. Ich lasse zwischendurch immer wieder ein paar Runden vergehen, in denen ich die Antworten nicht oder falsch einlogge und es sind auch immer wieder Fragen dabei, die ich tatsächlich nicht beantworten kann und trotzdem haben wir nach kurzer Zeit eine Runde Freigetränke auf dem Tisch stehen und bald darauf wieder eine. Finnicks Augenbrauen verschwinden hinter den silbernen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fallen, als er mich anerkennend mustert.

„Du steckst voller Überraschungen", flüstert er mir ins Ohr und ich kann das Kichern gerade so unterdrücken.

„Hast du etwas von", ich stocke, um nichts Falsches zu sagen. Mako und Loria gehören zwar zu den Schlangen, man weiß aber nie, ob nicht doch Spitzel anderer Gruppen in der Nähe sind.

„-dieser Frau gehört?", beende ich den Satz schließlich. Verständnis sickert schnell in Finnicks Blick und er nickt freudig.

„Es ist alles gut gelaufen. Sie hat jetzt einen sicheren Ort erreicht", murmelt er mir zu. Ich traue mich und bewege meinen Mund nah an sein Ohr: „Wohin werden die Geretteten eigentlich gebracht?" Aber Finnick zuckt die Schultern.

„Genau weiß ich es auch nicht. Ich arbeite nur innerhalb der Stadt. Die Metamorphs werden außerhalb der Stadt evakuiert."

Außerhalb der Stadt kann man eigentlich wegen der erhöhten Seuchengefahr nicht leben. Oder ist das vielleicht eine Propagandalüge der Regierung? Wundern würde es mich nicht. Seit den Zeiten der Epidemien sind schließlich schon über fünfzig Jahre vergangen. Vielleicht gibt es außerhalb von Colonia Nord doch noch bewohnte Gebiete. Dass es andere Städte gibt, ist klar. Aber die nächste ist mehrere hundert Kilometer weit entfernt und nicht wirklich erreichbar. Oder verfügen die Schlangen über außergewöhnliche Transportmittel? Fragen über Fragen reihen sich aneinander und ich gebe mir Mühe, sie alle zurückzustellen. Ich werde sicherlich bald Gelegenheit haben, sie zu stellen.

„Es gibt viele Dinge, von denen du feststellen wirst, dass sie anders sind, als man dich glauben machen will", sagt Finnick mit einem bedauernden Lächeln. Das Erste, was mir dazu einfällt, ist jedoch nichts über die Stadt oder die Außenwelt, über Krankheiten oder Klima. Das Erste, woran ich denke ist, dass die Meister mir beigebracht haben, dass alle Menschen schlecht sind. Und nun sitze ich hier, sehe Finnick an und kann nur denken, dass das nicht wahr ist. Ich sehe zu Mako und Loria, denke an Sona und Nyx. Und an Yanto. Alles Menschen, die in dieser verkommenen Stadt leben und nicht das Schlechteste daraus machen, sondern versuchen Gutes zu tun. Ohne eine Gegenleistung zu bekommen. Und mir ist plötzlich völlig klar, auf welcher Seite ich stehen möchte. Das Grinsen, das sich auf meinem Gesicht ausbreitet, lässt sich kaum begrenzen. Finnick legt fragend den Kopf schief, doch ich schüttle meinen leicht und winke ab.

„Mona, dein Einsatz", unterbricht Mako meine Gedanken, verwirrt sehe ich ihn an und Loria erklärt lachend: „Die Gläser sind leer!"

Also beantworte ich noch ein paar der Quizfragen, während ich den drei anwesenden Schlangen verstohlen von meiner morgigen Mission erzähle. Ich werde mit Leandra und Odo losziehen, was es etwas schwerer machen wird, unsere Zielperson, sollte sie ein Metamorph sein, in Sicherheit zu bringen. Die Mission soll abends stattfinden und das Ziel auf Sicht eliminiert werden. Also ist es entweder ein Metamorph und die Meister verschärfen die Regeln, oder es ist tatsächlich ein gefährlicher Mörder. Ich werde mir Mühe geben, es herauszufinden, indem ich mir die Faktenlage morgen genau ansehe und im Zweifel retten die Schlangen eben einen Mörder. Ich werde Sona eine Nachricht schicken, sobald ich Genaueres weiß. Dass ich noch keine Kontaktdaten mit den Schlangen ausgetauscht habe, zeigt erschreckend deutlich, wie wenig ich normalerweise unter Leute gehe. Für andere ist es normal, das fast zuerst zu tun, wenn sie jemanden kennenlernen. Ich muss erst von Mako darauf angesprochen werden, wann ich aufhöre immer mysteriös in der Nacht aufzutauchen und zu verschwinden.

Dafür kann ich sie jetzt alle jeder Zeit anrufen und anschreiben. Was mich natürlich auf professioneller Ebene freut und nicht, weil ich dann Finnick immer kontaktieren kann.

Wir lachen noch viel und ich sorge für eine letzte Runde Freigetränke, bevor ich nach Hause gehe. Finnick umarmt mich lange und fest zum Abschied und bittet mich, ihm zu schreiben, wenn ich zu Hause angekommen bin.

„Dir ist schon bewusst, dass ich für gewöhnlich die Gefahr bin, oder?", schmunzle ich und ernte ein errötendes Gesicht seinerseits, bevor ich mich umdrehe und gehe.

Zu Hause angekommen tue ich Finnick den Gefallen und schicke ihm eine Nachricht: Ich bin tatsächlich heile zu Hause angekommen.

Es dauert nicht lange, bis die Antwort aufleuchtet: Das freut mich. Dann schlaf gut und hab schöne Träume.

Ich lächle und lege mich ins Bett.

Selber.

Schreibe ich noch zurück, bevor ich einschlafe.

SchattentänzerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt