Zumindest muss ich nicht mehr kriechen.

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Es geht mir am Tag nach meiner Bestrafung gar nicht so schlecht, wie ich befürchtet habe. Ich habe keine gebrochenen Knochen, außer die zwei äußeren Finger der linken Hand, meine Zähne sind alle noch da und ich kann meine Augen trotz Schwellung öffnen. Vielleicht ist es gut, dass Kaz der Ausführende war. Die letzten von den Meistern zur Strafe verprügelten Schattentänzer hatten nicht annähernd so viel Glück. Odo musste nach der Heilung der Knochenbrüche, die ihm Estera zugefügt hatte, erst eine Rehabilitationstherapie machen, um wieder richtig laufen zu können und Kaz musste vor zwei Jahren sein komplettes Gebiss neu wachsen lassen, nachdem Severin mit ihm fertig war.

Das heißt nicht, dass es mir gut geht. Im Gegenteil. Ich kann mich fast nicht bewegen, atmen verursacht einen stechenden Schmerz und essen und trinken - zum Glück werde ich von Leandra mit Lebensmitteln versorgt - tut mit aufgeplatzten Lippen höllisch weh. Es ist also gar nicht schwer, die Nahrungsaufnahme auf ein Minimum zu beschränken, um mich seltener auf Toilette schleppen zu müssen. Das erste Mal heute Morgen musste ich in mein Badezimmer kriechen.

Ich bin also nicht gut auf Kaz zu sprechen, obwohl es hätte schlimmer sein können. Seine freiwillige Meldung lässt mich immer noch nicht los. Hat es ihn so in seinem Stolz gekränkt, als ich ihn besiegt habe? Oder wollte er wirklich üben, wie er in Zukunft Novizen bestraft? Was auch immer der Grund ist, ich werde mich bei ihm revanchieren, sobald es mir wieder besser geht. Aber dieser Zeitpunkt scheint momentan noch eine Weile entfernt. Sogar Liegen schmerzt.

Aber trotzdem bin ich froh. Ich lebe. Und ich darf erst einmal am Leben bleiben, obwohl noch nicht geklärt ist, wie. Ich muss schließlich etwas beitragen und kann nun nicht mehr das Haus verlassen. Ich werde mich also brav an alle Regeln halten und zeigen, was für ein folgsames Mädchen ich sein kann. Meine Wut und meinen Frust werde ich runterschlucken und lediglich die Dankbarkeit nach außen dringen lassen. Vielleicht finde ich eine Möglichkeit, meine DNA aus der Datenbank zu löschen, auch wenn das noch keinem endgültig gelungen ist, da zu viele Sicherungskopien erstellt werden. Aber vor allem muss ich jetzt heilen und dafür brauche ich viel Schlaf, weshalb ich der Müdigkeit, die mich wieder überwältigt, nachgebe und in einen traumlosen Schlaf dämmere.

Ein Klopfen an meiner Tür weckt mich wieder und Leandra kommt mit einem Tablett herein. Draußen ist es noch hell, aber die Sonne steht schon tief.

„Bevor ich zur Mission aufbreche, wollte ich dir noch etwas zu essen reinbringen", sagt sie und stellt das Tablett mit seinen kurzen Beinen auf beiden Seiten meines Körpers ab. Ich murmele ein kleines „Danke", wobei ich versuche den Mund nicht allzu viel zu bewegen. Mit einem kurzen Lächeln geht sie wieder hinaus. Ich hebe den neben der nach Kräutern duftenden Suppe liegenden Löffel an, um mich zu mustern. Mein Gesicht ist immer noch purpurn und meine Augen geschwollen, aber an den Rändern wird es langsam eher blau. Mit möglichst wenig Bewegung bewege ich den Löffel zum Suppenteller und schlürfe sie löffelweise ganz langsam leer. Mit meiner VR-Brille sehe ich mir die aktuellen Nachrichten an, um zu sehen, ob etwas über meinen Einbruch berichtet wird. Doch es geht um die Wiederwahl des Präsidenten. Ich höre seiner verlogenen Rede über die großartigen Sicherheitsstatistiken von Colonia Nord zu, bis ich wieder wegdämmere und bis morgens durchschlafe.

Am nächsten Morgen ist es nicht Leandra, die mir einen Teller Grießbrei zum Frühstück ins Zimmer bringt, sondern Severin. Ich bin überrascht und ein bisschen misstrauisch, weil das sonst nicht seine Art ist. Er überprüft meine Verletzungen, oder zumindest die, die meine Schlafkleidung offenlegt, säubert hier und da mal eine Wunde und sagt schließlich: „Du hattest Glück." Dann geht er. Ich verstehe nicht genau, was er meint. Dass ich leben darf? Oder, dass meine Verletzungen nicht so drastisch sind? Ich habe nach dem Frühstück jedoch dringendere Bedürfnisse, als darüber ewig nachzudenken und schleppe mich ins Badezimmer. Die Schmerzen sind immer noch stark, aber nicht mehr so schlimm wie gestern. Zumindest muss ich nicht mehr kriechen.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now