Große Dummheit erfordert harte Strafen.

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Ich höre, dass die Meister nach Hause gekommen sind. Nicht daran, dass sie Geräusche dabei machen würden, sondern daran, dass das Treiben im Wohnzimmer absolut verstummt ist. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Aber ich stähle meine Nerven. Ich habe mich so gut es mir in der kurzen Zeit möglich war, vorbereitet und bin zumindest ein bisschen zuversichtlich, dass sie mich leben lassen werden. Hoffentlich.

Es klopft an meiner Tür. Ich stehe vom Tisch auf, gehe zur Tür und öffne sie. Im Türrahmen steht Severin. Sein Gesicht ist eine undurchschaubare Maske, aber seine Augen haben einen Ausdruck, der mir Angst macht. Richtige Angst. Severin hat mir noch nie etwas angetan. Nicht ernsthaft. Für alle wirklich schmerzhaften Dinge in meiner Ausbildung waren Mirea und Estera verantwortlich.

Mirea war es, die mir im Foltertraining Holzsplitter unter die Fingernägel getrieben hat, Estera hat mich grün und blau geprügelt, als ich im Geschichtsunterricht darüber gemotzt habe, dass ich diesen ganzen Scheiß nie brauchen werde.

Severin hat immer nur instruiert, belehrt, geprüft. Sicherlich hat er mir auch ab und an wehgetan. Doch nie sehr. Aber heute sieht er brutal aus. Ich schlucke. Urteile werden für gewöhnlich von ihm vollstreckt. Das habe ich oft genug mitansehen müssen.

„Komm", sagt er knapp und dreht sich auf der Stelle um. Ich gehe ihm hinterher ins Büro. Er zeigt auf einen Stuhl, auf der einen Seite des Glastisches. Die anderen Schattentänzer sitzen mir vollzählig gegenüber und mustern mich. Leandras Gesicht ist das einzige, das eine Emotion zeigt. So etwas wie Mitleid oder Bedauern spricht aus dem leichten Stirnrunzeln, mit dem sie mich ansieht.

„Was ist passiert." Es ist Estera, die die Frage stellt. Sie scheint Mühe damit zu haben, mich nicht anzuschreien. Erneut etwas, was mir tatsächlich Angst macht. Estera ist sonst erstens beherrscht und zweitens diejenige, die mich im Zweifel in Schutz nimmt. Ich räuspere mich.

„Zuerst möchte ich klarstellen, dass das, was ich jetzt erzählen werde, keinerlei Ausrede, geschweige denn Entschuldigung für mein Handeln sein soll und kann. Es ist lediglich eine Erklärung, damit ihr nachvollziehen könnt, wie ich etwas so unfassbar Dummes tun konnte." Ich blicke jedem einzelnen von ihnen ins Gesicht. Ich erwarte keine Regung, doch Mirea lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.

Unsicher, was das bedeutet, verbuche ich es als Punkt für mich und fahre fort: „Wie ihr alle wisst, wurden meine Eltern vor meinen Augen ermordet, als ich ein Kind war. Und ich weiß seit ein paar Wochen, dass ihr auch alle immer wusstet, wer die Mörder meiner Eltern waren." Dieser Teil ist besonders gefährlich, da er auf keinen Fall wie eine Beleidigung oder Herausforderung klingen darf. Wieder sehe ich alle an. Nur ganz kurz, um mich zu vergewissern, ob ich nicht zu weit gegangen bin. Odo hat den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Schuldbewusstsein. Treffer.

„Das habe ich an dem Tag erfahren, als ihr mir das Ultimatum gestellt habt, entweder binnen zwei Wochen gut genug zu werden, im Zweikampf gegen Kaz zu bestehen, oder getötet zu werden." Da sich Severins Miene bei meinen Worten verfinstert, beeile ich mich fortzufahren.

„Ich bin nämlich an dem Tag zu diesem Büro gekommen, um euch zu sagen, dass ich sterben will. Dass ich nicht zwei Wochen lang warten will, weil ich keinen Sinn darin gesehen habe, weiterzuleben." Ich schlage die Augen nieder und atme tief ein. Vielleicht etwas überzogen, aber dramatische Worte brauchen dramatische Gesten.

„Als ich an der Tür ankam und klopfen wollte, habe ich Kaz sagen hören, dass ihr wisst, wer die Mörder meiner Eltern sind. Ich habe nicht gelauscht." Das ist zwar eine Lüge, aber eine nötige.

„Ich habe die Worte unwillkürlich gehört. Aber das war der Zeitpunkt, an dem ich wusste, dass ich weiterleben will. Weiterleben, um diese Männer zur Strecke zu bringen. Dieser Gedanke war es, der mich nicht nur davon abgebracht hat, euch zu bitten, mein Todesurteil sofort zu vollstrecken, sondern mich motiviert hat, mein Allerbestes zu geben, um gut genug zu werden. Gut genug, um Kaz zu besiegen. Gut genug, um euch zu zeigen, dass ich es kann. Gut genug, um die Mörder meiner Eltern umbringen zu dürfen."

Die Balance zwischen Pathos und Sachlichkeit zu halten, ist gar nicht so einfach, doch es scheint mir größtenteils zu gelingen. Zumindest Leandra und Odo haben die Augenbrauen leicht hochgehoben und wirken interessiert. Estera hat die Lippen gespitzt und ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber Severin scheint etwas weniger mordlustig auszusehen.

„Ihr habt mir gesagt, ich wäre noch nicht so weit, weil diese Männer äußerst gefährlich sind. Nachdem ich dann aber ein paar Missionen erfolgreich mitgemacht habe, bin ich übermütig geworden und habe mich überschätzt. Ich habe die Männer heimlich ausgespäht, bis ich von ihrem heutigen Treffen erfahren habe und entschied, zuzuschlagen." Mit belegter Stimme sage ich diesen Teil, um so reumütig wie möglich zu klingen.

„Ich habe mich also rausgeschlichen, nachdem ihr weg wart und ihren Treffpunkt aufgesucht. Als ich gerade in ihre Lagerhalle eindringen wollte, wurde ich von hinten bewusstlos geschlagen und bin an einen im Boden festgeschraubten Metallstuhl gefesselt und entwaffnet wieder zu mir gekommen. Trotz der Elektroschocks, mit denen meine Angreifer mich foltern wollten, habe ich nicht gesprochen. Doch ich konnte mich nicht wehren, als mir einer von ihnen die Maske vom Gesicht schnitt und ein Foto von mir machte. Als er das Haar aus meiner Maske zog, wusste ich, dass es vorbei ist und habe euch gerufen."

Mit möglichst großen Augen blicke ich die Meister an: „Es tut mir leid. Wirklich."

„Die Männer, die dich angegriffen haben, waren die Leibwächter von Dorrit und Leo. Sie haben immer Leibwächter in ihrer Nähe. Das ist einer der Gründe, weshalb es zu gefährlich für eine unerfahrene Assassine ist, sie anzugreifen", schnarrt Mirea. Und sieht mich mit ihrem Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick an. Vielleicht wussten Dorrit und Leo dann die ganze Zeit, dass ich sie verfolge. Ich würde mir am liebsten gegen die Stirn schlagen, weil ich so einfältig war, doch ich muss mich beherrschen. Ich versuche stattdessen Bestürzung und Schuldbewusstsein auszustrahlen.

Severin, Estera und Mirea tauschen Blicke. Severin hebt eine Augenbraue, Mirea zieht beide hoch, sodass ihre Stirn kleine Falten wirft und Estera zieht die Augenbrauen zusammen. Schließlich nicken alle drei. Wie sie das machen, sich wortlos so zu verständigen, habe ich mich immer gefragt.

„Rae. Wir werden dich nicht umbringen." Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen und ich atme erleichtert auf.

„Aber Strafe muss sein. Und du weißt: Große Dummheit erfordert harte Strafen." Severin steht auf. Ich kann mir genau ausmalen, was jetzt passieren wird. Er wird mich nicht töten, aber verprügeln. Nein, nicht einfach verprügeln. Er wird mich so zusammenschlagen, dass ich fast tot sein werde. Ich musste schon oft bei solchen Bestrafungen anwesend sein und schon beim Zusehen ist mir schlecht geworden. Allein der Gedanke, dass ich leben darf, lässt mich jedoch die Zähne zusammenbeißen und nicken. Ich stehe ebenfalls auf und trete hinter meinen Stuhl, als Kaz sich plötzlich räuspert. Alle wenden sich ihm zu.

„Ich stelle den Antrag, dass ich die Strafe vollstrecken darf." Ein wölfisches Grinsen kann kaum noch von seiner ausdrucklosen Miene verdeckt werden. Severin legt den Kopf schief und mustert ihn. Mirea und Estera sehen ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ich bin fassungslos. Die anderen Schattentänzer offenbar auch. Odo ist sogar die Kinnlade runtergefallen und er starrt Kaz mit offenem Mund an.

„Wir alle wissen, dass ich derjenige bin, der im tragischen Fall, dass einer von euch Meistern seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen kann, nachrücken wird." Irgendwie war uns das schon allen bewusst, aber es so unverhohlen ausgesprochen zu hören, ist unverschämt.

„Daher würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, die Erfüllung dieser Aufgabe zu üben." Severin setzt sich wieder hin und er, Estera und Mirea haben wieder ein stummes Gespräch. Mirea sieht misstrauisch aus, doch die anderen beiden scheinen sie zu überstimmen. Vermute ich zumindest, zumal sich Estera zu Kaz umdreht und ihm zunickt.

„So hart es geht, ohne sie zu töten oder das Gehirn zu beschädigen", sagt Severin mit seiner Lehrerstimme. Alle stehen auf, um sich in die Arena zu begeben. Nur Kaz bleibt noch kurz sitzen und zwinkert mir feixend zu.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now