Kapitel 11

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Die nächsten Tage vergehen wie im Flug und schon ist es Donnerstag. Gestern habe ich beim Bogenschießen deutlich öfter das Zentrum der Zielscheiben getroffen als letzte Woche. Xavier, der über einen Kopf größer ist als ich, ist das aufgefallen und meinte, ich lerne schnell. Ich bin zuversichtlich, dass ich schon bald so gut sein werde wie Wednesday.

Der Schule ist schnell vorbei und ich dachte wirklich, dass heute wieder ein normaler Tag ohne "besondere" Momente wird, doch wie heißt es? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Denn in dem Moment, wo ich ins Zimmer komme und ,,Hi Wednesday" sage, fliegt ihr Kopf in einer abrupten Bewegung nach hinten, sie reißt die Augen auf und verharrt in dieser äußerst ungesunden Haltung. ,,W- Wednesday? Alles okay?" Besorgt gehe ich zu ihr und rüttele sie an der Schulter. Ihr Kopf fällt wieder nach vorne und sie blinzelt mehrmals. ,,Alles okay?" wiederhole ich mich. Sie steht auf, um auf Augenhöhe mit mir zu sein. ,,Alles bestens. Was sollte schon sein?" Dann verlässt sie das Zimmer und lässt mich allein. Entweder, sie lügt, weiß nicht, was gerade passiert ist oder sie ist so knallhart, dass ihr diese seltsame Bewegung nichts ausmacht. Ich bin vollkommen verwirrt.

Nach diesem Vorfall komme ich nicht mehr zur Ruhe. Was war das? Wieso schien sie noch kälter als sonst zu sein? Vielleicht kann ich in der Bibliothek ja etwas herausfinden. Eine der Lehrerinnen, Ms. Rockwood, ist dort so etwas wie die Bibliothekarin.
Ich gehe in die dunkle Bibliothek. Die schweren Schwarzeichentüren sind mit eingeritzten Schnörkeln verziert und lassen sich nur schwer öffnen. Das Kratzen der Tür auf dem Boden könnte man in meiner Vorstellung durch die ganze Schule hören. Überall stehen in einer symetrischen Ordnung Bücherregale, auch aus Schwarzeiche, und dunkle, verstaubte Bücher füllen sie. Ich sehe mich eine Weile um. Zwischen Schulbüchern wie Geschichte, Englisch, Wirtschaft und Biologie finde ich auch zahlreiche interessante Romane.
Ich finde Miss Rockwood, die freundliche Lehrerin, auch direkt. ,,Hallo Miss Rockwood", begrüße ich sie. Die Frau ist schon relativ alt, hat Falten und hellgraue, einst kastanienbraune, Haare. Aber sie ist eine Werwölfin und deshalb sehr langlebig und wirkt immer aufgeweckt und frisch. Sie lächelt mich wohlwollend an. ,,Was kann ich für dich tun?" ,,Ich habe gehofft, etwas herausfinden zu können." ,,Ah, endlich Mal kein Mädchen, das nach ihrem süßen Date fragt. Erzähl mir mehr." Hier machen Päärchen rum? Widerlich. ,,Also, es geht darum, dass eine Person scheinbar urplötzlich den Kopf in den Nacken wirft und die Augen aufreißt. Nach einer Weile schnellt der Kopf zurück und alles ist wie vorher." ,,Von woher kennst du dieses Phänomen?" Sie steht auf und geht zu einem Bücherregal in einer dunklen Ecke. Man könnte es übersehen, so gut ist es in den Schatten versteckt. ,,Visionen." Sie wartet gar nicht auf eine Antwort von mir und zieht ein dunkelgraues Buch aus dem Regal, pustet einmal über den Einband und eine dicke Staubschicht fliegt mir entgegen. Ich ducke mich schnell weg.

Die Werwölfin scheint es nicht zu bemerken, dass sie mich fast eingestaubt hat. Nun ist das Buch dunkelviolett mit goldenen Verzierungen. "Visionen" steht darauf. Miss Rockwood blättert scheinbar wahllos in dem Buch herum. ,,Ja, hier solltest du deine Antwort finden. Visionen der Taube und des Raben." Sie hält mir die offene Doppelseite hin, ich nehme das Buch und sie verschwindet zwischen den Regalen.

Ich mache es mir in einer Sitzlandschaft aus dunkelroten Sesseln gemütlich und lese alles über die beiden verschiedenen Arten von Visionen. Die der Taube sind allgemein betrachtet bei Menschen üblich, die eine positive Sicht auf die Dinge haben. Die des Raben eher für die mit einer negativen. Sie werden durch Berührungen oder anderweitigen Kontakt verursacht und zeigen dem Träger eine Situation, die in der Vergangenheit passiert ist, in der Gegenwart stattfindet, oder in der Zukunft sein wird. Anzeichen für Außenstehende sind eine ruckartige Bewegung des Kopfes in den Nacken und weit aufgerissene Augen. Es kann von Sekunden bis zu Stunden dauern.
Ich kann mir erschließen, dass Wednesday die Rabenvisionen hat. Jetzt bin ich aber neugierig: Was hat sie gesehen? Und was hat es verursacht?



Die nächsten Tage vergehen in Windeseile und ich finde mich so langsam auch gut allein im Schulalltag zurecht. Nachdem Bianca offenbar gemerkt hat, dass ich immer allein bin, lässt sie mich in Ruhe. Ab und zu mache ich etwas mit Enid, aber ich kann nicht leugnen, dass ich lieber etwas mit Wednesday unternehmen würde, die mich aber scheinbar ignoriert.
Und dann wäre da noch Xavier, mit dem ich jeden Mittwoch beim Bogenschießen reden kann. Es ist nicht so, dass ich ihm all meine Gefühle ausschütte, aber wir kommen gut miteinander aus.

Heute gehe ich das erste Mal, seit ich an der Schule bin, nach Jericho. Das ist eine kleine Stadt die Straße herunter. Für Schüler ist es ein Privileg, dort hinzugehen.
In der hübschen Kleinstadt gehe ich an mehreren Antiquitätenläden, Klamottenshops und einem Rathaus vorbei. Es gibt einen Marktplatz und ein paar kleine Cafés und Bäckereien.
Ich gehe in das nächstbeste Café. Es ist klein, warm und sehr gemütlich eingerichtet. Ich bestelle mir einen doppelten Cappuccino. ,,Du bist von Nevermore", sagt der Junge vor mir. ,,Das stimmt. Aber es ist ja nicht so, dass ich dann direkt was verbotenes mache, oder?" ,,Nein. Natürlich nicht. Entschuldige. Ich bin Ian." ,,y/n." ,,Schön, dich kennenzulernen. Setz' dich doch, ich bringe dir deinen Kaffee gleich." ,,Danke." Ich setze mich auf eine der gemütlichen Bänke und es dauert nicht lange, bis Ian mir den Kaffee bringt. ,,Ich habe schon ein bisschen Erfahrung mit Nevermore. Dort sollen die Schüler bestimmte Wesen sein oder Talente haben. Wie steht's mit dir, wenn ich fragen darf?" Ich beschließe, ihm eine Halbwahrheit zu sagen: ,,Ich kann mich in einen Wolf verwandeln." Jetzt wird er denken, dass ich ein Werwolf bin. ,,Verstehe. Das ist cool! Ich mag Wölfe." Ich muss lächeln. Wir reden noch eine Weile weiter, ich muss viel lachen. Aber auch irgendwann wieder los...
,,Entschuldigung. Es wird wieder Zeit für mich, zur Schule zu gehen.." ,,Natürlich. Meine Pause ist auch vorbei. Ich halte dich nicht auf." Ich nehme mir meinen Kaffee und werfe ihm noch ein letztes Lächeln zu, dann verlasse ich das Café. Das war ein besserer Aufenthalt als gedacht.

Zurück in der Akademie bekomme ich einen riesigen Schreck, als ich ins Zimmer komme. Wednesday starrt mich durchdringend an. ,,Enid meint, dass du gesagt hast, ich würde dir niemals etwas antun." Ich muss kurz überlegen, Wednesday meint das Gespräch vor ein paar Tagen, wo Enid mich im Wald gefunden hat. ,,Denke das nie wieder. Ich könnte dich ganz einfach im Schlaf erhängen." Angst kriecht in mir hoch. Was Wednesday tun kann, wozu sie fähig ist, steht außer Frage.

Am Abend liege ich im Bett und denke über Wednesdays Worte nach.
Und zum ersten Mal stelle ich mir die Frage, wie es sich wohl anfühlt, gefoltert und dann qualvoll getötet zu werden.


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I am back xD


"I see black" - Wednesday × fem. ReaderWhere stories live. Discover now