Kapitel 6

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Der restliche Abend verlief feucht fröhlich, aber ansonsten ereignislos. Dina war gegen 2 Uhr so betrunken, dass Jace sie nach Hause zu ihren Eltern trug. Als ich die letzten Gestalten zwei Stunden später vor die Tür setzte und alles abschloss, hatte sich die Luft bereits merklich abgekühlt. Das Gewitter war  offenbar über uns hinweggezogen, aber dafür regnete es jetzt in Strömen. Klasse. Ich sah mich um, aber weit und breit war niemand mehr zu sehen. Also setzte ich mich allein in Bewegung und begann meinen Marsch in Richtung der Siedlung. Der Wald war stockdunkel und die Bäume wiegten sich im Wind. Den Menschen machte die Dunkelheit des Waldes Angst, doch so hatte ich ihn am liebsten. Wild und geheimnisvoll. Aus der Ferne hörte ich Männerstimmen und lautstarkes Lachen wehte zu mir herüber. Ich hielt die Nase in die Luft und erkannte den Geruch sofort.
Der Wind stand günstig und so pirschte ich entgegen der Windrichtung auf den bekannten Geruch zu. Sie bemerkten mich überhaupt nicht. Und die sollten seit einer Woche in einem speziellen Training sein?
Mein Bruder erzählte offenbar eine wilde Geschichte und gestikulierte dabei ununterbrochen mit seinen Armen, während ihm die anderen beiden Halbstarken gebannt lauschten. Das konnte er schon immer gut. Er hatte das Charisma meines Vaters geerbt und versuchte ständig, die anderen von seiner Meinung zu überzeugen. Leider hatte er dagegen kein Gefühl für die Feinheiten der Politik und die Gefahren, die ein unüberlegter Satz mit sich bringen kann. Ich trat aus meinem Versteck hervor, machte einen großen Satz und landete auf dem Rücken von meinem Bruder.
„Uff", ächzte dieser und fiel der Länge nach auf den Bauch in den Matsch. Die anderen beiden sahen mich erschrocken an und setzten bereits zu ihrer Verwandlung an. Ich hob abwehren die Hände. „Ganz ruhig, Welpen", lachte ich sie aus und half meinem Bruder auf die Läufe.
„June ey, was solln' dass?" lallte mein Bruder und strahlte mich an.
„Oh man, seid ihr alle blau?" fragte ich ihn und schaute in die Runde. Betroffene Gesichter blickten zurück.
„Also schön, alle Mann heimwärts", ordnete ich an und so setzten wir uns zu viert in Richtung Siedlung in Bewegung. Heimwärts. Ich war erst eine Woche hier und verwendete schon so ein Wort. Ich schüttelte den Kopf. Aber was blieb mir auch anderes übrig, als diesen Ort als Heimat anzuerkennen? Das Rudel zu verlassen und alleine zu leben war keine Option. Ein einsamer Wolf überlebt nicht lange, das hat die Natur so vorgesehen. Allenfalls die Männchen verlassen ihr Rudel für eine kurze Zeit, um sich die Hörner abzustoßen und um sich danach leichter den Gesetzen und Hierarchien des Rudels unterwerfen zu können. Uns jungen Frauen war dies nicht gestattet. Und Texas war ganz sicher nicht meine Heimat.

Als wir in unserer Holzhütte ankamen, brachte ich meinen Bruder in sein Zimmer und legte mich anschließend in mein Bett. Die Wolken hatten sich verzogen und der Mond schien nun zu mir ins Fenster rein. Er war fast soweit. Morgen Nacht würde ich mich bei diesem Anblick nicht mehr unter Kontrolle haben können. Ich schaute hinauf zu Luna und spürte wie ein Gefühl von Stärke und Macht durch meine Venen pumpte.
Ich lies meinen Kopf kreisen und schloss die Augen. Meine Kopfhaut fing an zu kribbeln und meine Gelenke wollten sich strecken. Alles in mir schrie nach einer Verwandlung. Ich erinnerte mich an den letzten Vollmond im Texas-Rudel. Das letzte Mal an Vollmond hatte ich mich schnell verwandelt, lag in meiner Wolfsgestalt unter meinem Bett und betete, dass mich niemand fand. Es war mein letzter Vollmond im Texas-Rudel und ich hatte Glück. Luna war auf meiner Seite und beschützte mich. Vor dem nächsten Vollmond hatte ich keine Angst. Ich war uninteressant und würde einfach wie sonst auch mit meinem Bruder im Wald laufen gehen. Mein nächster schwieriger Vollmond würde erst wieder im Oktober sein, bis dahin blieb ich von meiner Läufigkeit verschont.
Da wir halb Mensch und halb Wolf waren, teilten wir uns auch die Biologie des anderen Wesens. So wurden die Weibchen nicht nur einmal im Jahr läufig, wie der Wolf. Aber auch nicht jeden Monat, wie die Menschen. Wir kamen zweimal im Jahr in die sog. Ranzzeit, wo natürlich auch willentlich viele Welpen entstanden. Gleichzeitig wohnte dieser Zeit auch die Gefahr inne, dass gerade junge Wölfe mit der Situation überfordert waren und übergriffig wurden. Wenn das Rudel einen starken Alpha hat, werden die unverpaarten Wölfinnen geschützt. Doch Francis war damals kein starker Alpha. Oder es war ihm einfach schlichtweg egal.
Ich schüttelte mich bei dem Gedanken an Francis und schob meine Beine unter die Decke. Ich war erschöpft vom Abend und schlief direkt ein. Es war ein unruhiger Schlaf. Ich träumte von dem letzten Texas-Vollmond und wie ich mich unter meinem Bett versteckte, während im Off „Hit the Road Jack" plärrte. Dann war ich plötzlich am See und goldene Augen schauten mich an. Wir waren allein und ich schwamm selbstbewusst auf ihn zu. Nur eine kurze Berührung. Ich neigte meinen Kopf zur rechten Seite, während er seine Arme um meinen nackten Oberkörper schlang. Ein Hauch von Kuss auf meinem Hals, bevor sein Mund tiefer...- „June, steh auf es ist gleich Mittag!", rief meine Mutter und ein lautes Klopfen holte mich unsanft aus meinen Träumen.

Grey on GoldWhere stories live. Discover now