Kapitel 5

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„June, wie läufst du rum?!", rief meine Mutter nach Luft schnappend, als ich durch die Haustür trat. Ich schaute an mir herunter. Mein weißes T-Shirt klebte an meiner nassen Haut und zeigte.. naja eigentlich alles.
„Mum, ich war im See schwimmen. Und sonst hat mich niemand so gesehen", versicherte ich ihr wahrheitswidrig und ging in die Küche.
„Wir können uns hier nicht auf unseren guten Ruf verlassen, sondern müssen diesen erst neu aufbauen", jammerte meine Mutter hinter mir her. „Bitte bring dich doch etwas unterstützend in diese Angelegenheit ein."
Ich verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen. „Ja ich weiß. Apropos guter Ruf - du weißt schon, dass du für die Luna vieja kämpfen musst?", fragte ich meine Mutter.
Sie stöhnte auf. „Du weißt es?", erwiderte sie. „Das hätte ich mir denken können. Du bist manchmal einfach schlauer als dir gut tut", tadelte sie, aber mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. Ich lächelte sie an.
„Ja ich weiß, dass die Witwe vom alten Omega den Platz auch haben will. Ich kenne sie noch von früheren Finsternissen. Eine schreckliche Frau." Meine Mutter verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Sie vertritt die alten Werte und würde keinerlei Änderung oder Bereicherung des Rates mit sich bringen.", erklärte meine Mutter kopfschüttelnd.
Hin und wieder fanden zwischen befreundeten oder verbündeten Rudeln sogenannte „Finsternis-Treffen" statt. Bei einer totalen Mondfinsternis kann sich kein Wolf verwandeln. Wir sind in unserer menschlichen Gestalt gefangen und daher für unser Gegenüber völlig ungefährlich. Aus diesem Grund kann ein Treffen mit anderen Rudeln stattfinden. Die hitzigen Diskussionen oder Streitereien würden ansonsten zu oft dazu führen, dass einer die Beherrschung verliert und das Ganze in einem Blutbad endet.

„Meinst du, du hast überhaupt eine Chance gegen eine alteingesessene Witwe des Rudels?", fragte ich ungläubig, während ich mir eine kalte Limonade eingoss und mich an die Küchentheke lehnte.
Wahlkampfstrategien und -analysen hatte ich mir seit Welpentagen anhören müssen und diese schien mir doch recht aussichtslos zu sein.
„Abwarten, June", lächelte meine Mutter wissend. „Das Rudel hier ist anders als in Texas, meine Liebe. Eine neue Zeit ist angebrochen. Kaum ein anderes Rudel in Amerika hat jüngere Hochrangige."
Meine Mutter machte wirklich das Beste aus einer Tragödie. Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten Heimat und Vater verloren und hier starben drei Anführer auf mysteriöse Weise. Eigentlich müsste meine Mutter über unsere Geschichte trauern und an dem Schicksal des neuen Rudels jedenfalls anstandshalber Anteil nehmen. Stattdessen plante sie strategisch, deren Schwächen auszunutzen.
„Ich muss mich umziehen", sagte ich und stieß mich von der Küchentheke ab. „Wo willst du hin?", fragte meine Mutter.
„Heute ist Freitag, ich muss ab 18 Uhr wieder im Café arbeiten. Heute soll es voll werden", antwortete ich.
„Ach stimmt, dann stehen wir uns später! Ich treffe mich dort mit ein paar Bekannten auf ein Glas Wein."
Ich warf ihr noch ein flüchtiges Lächeln zu und ging nach oben. Dort sprang ich schnell unter die Dusche und suchte ein neues Outfit raus. Eine schwarze Jeans und ein schwarzes, enges T-Shirt landeten auf der Matratze. Ich band meine Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hoch und zog mich an. Zur Abwechslung trug ich etwas Mascara und Lipgloss auf und blickte dann zufrieden auf mein Spiegelbild.
„Ich bin weg!", rief ich ins Haus und trat vor die Tür. Mein iPod spielte „brutal" von Olivia Rodrigo - Dina hatte mir den Song gezeigt - und im Takt der Musik machte ich mich auf den bekannten Weg zum „Blue Inn". Mittlerweile hatte es sich etwas abgekühlt, aber es war immer noch schwüle Luft. In der Ferne hörte man schon ein leises Grummeln, vermutlich würde es bald anfangen zu gewittern.

***
„Voll" war kein Ausdruck, das Café quoll nur so über. Dina und ich hatten kaum Zeit zu quatschen, sondern reichten in einer Tour Bier, Wein und Long Drinks über den Tresen. Sämtliche Kaffeeutensilien waren, ebenso wie die Kühltheke für die Speisen, weggeräumt worden und standen jetzt in der Küche. Stattdessen befanden sich dort jetzt auf der Verlängerung des Tresens Knabbersachen und frische Gläser. Die Musik war laut und übertönte fast jedes Gespräch zwischen den Rudelmitgliedern - Menschen waren keine anwesend. Als ob die Leute in der Stadt spürten, dass es sich um einen geschlossenen Kreis handelte, gingen sie mit neugierigen Blicken am Café vorbei, betraten es jedoch nicht. Zu Beginn erkannte ich noch welche von ihnen, die sich vormittags einen Kaffee bei mir geholt hatten und jetzt nur eilig am Fenster vorbeiliefen.

Drinnen wurde die Stimmung mit späterer Stunde immer ausgelassener. Meine Mutter saß erst mit andere Frauen an einem der Ecktische, doch mittlerweile hatten ein paar Rudelmitglieder die Stühle und Tische zur Seite geschoben und meine Mutter tanzte ausgelassen zu Gerdundula von Status Quo. Dina neben mir lachte, während sie sich weit über den Tresen beugte und meinem Bruder etwas zuflüsterte. Ich bemerkte widerwillig, dass mein Bruder ihr in den Ausschnitt glotzte. Dann reichte sie ihm ein Whiskey-Cola über die Theke.
„Fynn!", unterbrach ich die beiden und sah ihn vorwurfsvoll an. „Wir sind nicht in Europa", lachte ich und deutete auf den Drink in seiner Hand.
„Ach entspann dich, Schwesterherz", zwinkerte mir Fynn zu und wandte sich dann wieder den anderen Heranwachsenden zu.
„Dein Bruder ist voll süß!", kicherte Dina. Ich verzog das Gesicht.
„Na wenn du meinst", gab ich zurück und schenkte für den Mann hinter dem Tresen Whiskey pur in ein Glas und reichte es ihm über die Theke.
Plötzlich grölte die Menge auf: Die Höherrangigen betraten das Café und das übrige Rudel gab begeisterte Laute von sich. Felix begab ich auf direktem Weg zur Bar. Er hob drei Finger und nickte mir zu.
„June, sei ein Schatz und gib mir bitte 3 Bier", zwinkerte er mir zu.
Ich lachte etwas nervös wegen unserer Begegnung am Nachmittag und holte drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
„Bitte sehr." Ich übergab ihm die Flaschen er schob ungefähr 250 Dollar über den Tresen.
„Bitte immer für Nachschub sorgen, der Rest ist für euch, Mädels", mit diesem Worten grinste er uns an und schob in die Menge davon, wo er William und Jace ein Bier gab.
„Woooah Hammer!", freute sich Dina. „Darf ich sie bedienen?", fragte sie mich.
„Äh, ja klar, wieso nich?" Ich schaute sie verwirrt an.
„Es ist so eine Ehre, den Alpha zu bedienen", kicherte sie.
„Alles klar, viel Spaß! Aber kümmere dich nicht nur um Jace", lachte ich und machte mich wieder an die Arbeit.

Zwei Stunden später waren sämtliche Regeln vergessen und auch ich erlaubte mir ein Bier zur Abkühlung. Selbst Eleanor bewegte sich ausgelassen auf der Tanzfläche. Der bevorstehende Vollmond trieb die Leute an und die ganze Bar roch nach Aufregung, Spannung und Sex. Dina tanzte mittlerweile mit Jace, wobei es ein „gegenseitiges aneinander reiben" wohl besser beschrieb. Ich ließ meinen Blick durch die Bar wandern, als mein Blick auf warme goldene Augen trafen. William stand auf der Tanzfläche und schaute mich an. Im Arm hielt er eine wunderschöne Frau, ungefähr in meinem Alter - die Barbie, die fast ihre manikürte Hand verloren hätte. Ich schluckte und mich überkam ein komisches Gefühl. Ich schüttelte kurz den Kopf über meine Gedanken und zog die Augenbrauen zusammen. Es war mir ja wohl völlig egal, mit wem der Alpha tanzte. William hatte seine Aufmerksamkeit wieder Serena zugewendet und einen Arm um ihre Taille gelegt, während er sich mit ihr zur Musik wiegte. Sie schwang lasziv ihre Hüften, sang den Song mit und lächelte unentwegt siegessicher. Ich hasste diesen Song. Hit the Road Jack.. der lief doch ständig. Ich nahm noch ein Schluck von meinem Bier und schaute auf die Uhr. Ich würde gerne mal mein Pause machen. Ich winkte Dina zu mir und bat sie kurz die Bar zu übernehmen. Widerwillig stimmte sie zu und ich konnte hinten in dem Pausenraum verschwinden.

Der Pausenraum hatte eine Hintertür. Ich trat hinaus in die frische Luft. Draußen donnerte es mittlerweile in unmittelbarer Nähe. Gleich wäre das Gewitter über die Berge und hier angekommen. Ich schloss die Augen und holte tief Luft.
„Hey."
Die warme Stimme strich über mich und ließ mich erschrocken herumfahren. In der Tür stand William und sah mich an. „Hey", erwiderte ich. Er schaute in den Himmel und kam einen Schritt auf mich zu, bis er schließlich neben mir stand. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Peinlich, das konnte er hören. Er sah mich wieder an und seufzte. Dann öffnete er den Mund, als ob er etwas sagen wollte, schloss ihn dann aber wieder.
„Es wird wohl gleich Gewitter geben", stellte er fest. Jaaaah, offensichtlich. Ich nickte bloß.
„Ich dachte, du solltest uns den Abend mit Bier versorgen?" fragte er. Wie bitte?! Ich blinzelte mehrmals.
„Ähm, ja natürlich..- ich habe nur gerade meine Pause und Dina kümmert sich darum.", wies ich ihn zurecht und sah ihm direkt in die Augen. Arrogantes Arschloch. Ich kniff die Augen zusammen.
Er lachte hart auf. „Alles klar", sagte er und drehte sich Richtung Tür um.
Ich schüttelt den Kopf und schaute wieder in den Himmel. Was war das denn? Alpha hin oder her, ich war keine Heranwachsende mehr und ganz sicher nicht irgendein Schoßhündchen, dass sofort sprang, wenn er pfiff.
„Ich ... wollte nicht, dass du dich heute Nachmittag unwohl fühlst", sagte er plötzlich leise. Mir fiel auf, dass seine Stimme heiser geworden war.
Er war im Eingang stehen geblieben. Ich drehte mich nicht um, ich konnte spüren, wo er stand. Auch er sendete Gerüche von positiver Anspannung und freudiger Aufregung aus, wie alle Wölfe kurz vor Vollmond.
„Schon gut", sagte ich. Und fügte lächelnd noch ein leises „Hab ich nicht." hinzu.

Grey on GoldWhere stories live. Discover now