Kapitel 3

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Im Rudelhaus herrschte reges Gedränge. Das große Holzhaus hatte eine große, hohe Eingangshalle, die verbunden mit einer Flügeltür in einen weiteren großen Raum führte. Dort standen wie in einer Kirche, zu den Seiten des Raumes eine Reihe von Bänken geteilt durch einen breiten Mittelgang. Am Kopf des Raumes befand sich jedoch kein Altar, sondern so etwas wie eine flache Bühne mit einer langen Tafel. Dort durften nur der Alpha und die Ratsmitglieder sitzen.
Die Alten saßen bereits auf ihren Plätzen und unterhielten sich lautstark über Ereignisse aus vergangenen Tagen. Als wir durch die Flügeltür traten, wurde es kurz etwas ruhiger und die Blicke richteten sich auf uns. Meine Mutter lächelte selbstbewusst, drückte den Rücken durch und ging mit stolzem Schritt in Richtung der vordersten Bänke. Dort begrüßte sie andere Frauen mit Küsschen, warf den Kopf zurück und lachte etwas zu laut über irgendwas, das ein Ratsmitglied zu ihr herüber rief. Ich verdrehte innerlich die Augen. Fynn hatte sich bereits abseits zu den Halbstarken gesellt und lehnte mit verschränkten Armen an der hinteren Wand, während die Jungen die Köpfe zusammensteckten und die Mädchen verhalten tuschelten.
Plötzlich fing ich einen auffordernden Blick von einem blonden Kopf mit grünen Augen auf. Dina winkte mir zu und bedeutete mir, mich zu ihr und drei anderen jungen Frauen zu stellen. Froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen und nicht mehr wie „bestellt und nicht abgeholt" im Eingang rumzustehen, lächelte ich ihr zu und begab mich zu der Gruppe hinüber. Wie es unser Schicksal war, waren alle mit naturgegebener Schönheit gesegnet. Perfekt. Dennoch konnte man immer etwas Argwohn und Eifersucht hinter der Fassade erblicken, so auch jetzt.
„Hey Leute, das ist June", stellte mich Dina der Runde vor. „Sie ist gerade mit ihrer Familie aus Texas hergezogen", vollendete sie unnötigerweise den Satz, denn offenbar wussten ohnehin schon alle wer wir waren und wo wir herkamen.
Ich hatte Dina jedenfalls nicht von Texas erzählt. Meine Vermutung bestätigte sich, als alle wissend nickten und manche die Augenbrauen hochzogen. Ich nickte zurück und setzte ein falsches Lächeln auf: „Hallo, schön euch kennenzulernen."
Zwei der Mädchen waren in Dina's Alter und stellten sich als Jennifer und Elena vor. Die beiden Schwestern waren zu Anfang etwas verhalten, aber ihr Lächeln wirkte ehrlich und freundlich. Die große Blondine mit strahlend blauen Augen hingegen, die sich als Serena vorstellte, war ungefähr in meinem Alter und sah mich besonders abschätzig an. Während des Gesprächs wandte sie ihren Blick betont desinteressiert an allem, was mit mir zu tun hatte, ab.
Während wir das übliche Geplänkel über Umzug und Ausbildung aus-tauschten, füllte sich das Rudelhaus immer mehr. Die anderen stellten interessierte Fragen und versuchten mich bestmöglich in ihr Gespräch über die neuste Sommerkollektion einzubinden. Ich stimmte Dina gerade zu, dass ein kräftiges Gelb in diesem Sommer wohl unverzichtbar sei, als Serena neben mir ein abfälliges Lachen ausstieß.
„Also bitte, gelbe Kleider sind genau so schrecklich wie Slipper. Was für furchtbare Schuhe, so männlich." Sie verzog den Schmollmund zu einem missmutigen Gesicht und ließ ihren Blick zu meinen Schuhen wandern.
„Oh tut mir leid, deine sind natürlich richtig süß!", sie schenkte mir ein falsches Lächeln und legte dabei ihre perfekt manikürte Hand auf meinen Arm. Vorsicht, Barbie - gleich verlierst du deine Hand. Meine innere Wölfin knurrte. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, drehte sie sich schwunghaft um und stellte fest, dass wir uns jetzt setzen sollten.
Tatsächlich saßen fast alle Ratsmitglieder mittlerweile auf ihren Plätzen auf der erhöhten Bühne am anderen Ende des Raumes. Nur der Platz des Alpha und der Luna vieja waren noch frei. Einer der Ältesten räusperte sich und klopfte dreimal mit seiner Faust auf den großen Holztisch. Unmittelbar erstarb das Gemurmel und ich schlich mich schnell zu dem Platz auf der Bank neben meiner Mutter. Als Erwachsene durfte ich im Gegensatz zu meine Bruder und Dina bereits als vollwertiges Rudelmitglied in Anwesenheit der Höherrangigen Platz nehmen. Den Heranwachsenden war es zwar erlaubt, an den Versammlungen teilnehmen, dies umfasste aber nicht das Recht sich in Anwesenheit des Alphas oder des Rates niederzusetzen. Dies wäre als Zeichen mangelnden Respekts zu verstehen und kam einer Herausforderung gleich. Welpen waren ohnehin nicht bei der Versammlung gestattet.
Meine Mutter sah sehr gefasst und stolz aus, aber ich spürte, dass sie nervös war. Mein Blick schweifte über die Bänke und in vorderster Reihe erkannte ich Jace und Feldarbeiter Nr. 2 aus dem Café. Göttin, in diesem Alter schon ein Sitzplatz in der vordersten Reihe? Sie konnten höchstens Ende 20, Anfang 30 sein. In der Reihe saßen normalerweise die Familien vom Beta und Omega des Rudels. Unser ehemaliger Platz.
Neben Jace saß eine schöne Frau mit fast schwarzen Haaren, die mit strengem Blick die Ratsmitglieder beobachtete. Gerade lehnte sich die Frau zu Jace herüber und flüsterte ihm etwas zu. Sie musste seine Mutter sein. Als sie sich zurücklehnte fiel ihr Blick auf meine Mutter und ein Ausdruck von purer Abneigung huschte über ihr Gesicht. Erschrocken zog ich die Augenbrauen hoch und kniff die Augen zusammen. Göttin, will sie vielleicht noch die Zähne fletschen? Meine Mutter ignorierte die Frau einfach und blickte weiter stur in Richtung der Ratsmitglieder. Die Flügeltür hinter der Tischreihe ging auf und ein groß gewachsener Mann trat ein. Sofort erhoben sich alle und schauten zu Boden. Ich hörte die Schritte des Alpha, wie er sich zu seinem Platz in der Mitte des Tisches begab und als er sich setzte, konnte ich wieder aufschauen und selbst Platz nehmen.
Mein Atem stockte, als ich sah, wer nun auf dem vormals freien Stuhl saß. „Der Feldarbeiter", murmelte ich. Der Alpha hatte eine dunkle Jeans und ein  dunkelblaues Flanell-Hemd an. Die Ärmel waren hochgekrempelt und gaben den Blick auf seine muskulösen Unterarme frei. Ich schluckte und meine innere Wölfin winselte nervös.
Seine goldenen Augen wanderten durch den Raum. Blieben sie kurz an mir hängen? Nein, das bildete ich mir ein.
„Guten Abend, meine Freunde", seine Stimme war tief und warm und ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen.
Der Alpha konnte nur durch seine Stimme bei einem untergebenen Wolf die Unterwerfung erzwingen. Manchmal passierte es Welpen, dass sie sich aus Versehen beim bloßen Klang der Stimme auf den Rücken drehten und Bauch und Kehle offenbarten. Das gab immer ein schönes Gelächter. Mit den Jahren lernte man, die Unterschiede in der Stimme zu erkennen und konnte seine Unterwerfung jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt selbst kontrollieren. Am Ende wird sich der untergebene Körper aber immer instinktiv unterwerfen.
Heute ergibt sich die körperliche Unterwerfung nur noch gespielt in einem Ritual oder zwanghaft im Kampf. Und Kämpfe gab es schon ewig nicht mehr, der Schutz unseres Geheimnisses ist viel zu wertvoll, als dass wir uns wilde Schlachten unter Rudeln leisten könnten.
„Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid", fuhr der Alpha fort. „Heute werden wir drei neue Mitglieder in unserem Rudel begrüßen. Anschließend gibt es ein paar Grenzangelegenheiten und Haushaltsplanungen zu be-sprechen."
Leises Gemurmel kam auf. Dann erhob sich das Ratsmitglied, dass vorher für Ruhe gesorgt hatte.
„May Haven", rief er meine Mutter auf und deutete auf die runde Stelle vor der Bühne.
Ich spürte, wie mein Herz schneller anfing zu schlagen und die Aufregung durch meine Venen floss. Instinktiv reagierte mein Körper auf meine Anspannung und wollte die Verwandlung einleiten. Ich gab der Spannung etwas nach und fuhr leicht die Krallen aus. Meine Mutter erhob sich und trat vor den erhöhten Tisch. Dort kniete sie sich hin und lehnte ihren Kopf zur rechten Seite und entblößte so ihre Kehle.
„Schwörst du dem Rudel deine Stärke und deine Treue?" fragte das Ratsmitglied.
„Ja."
„Schwörst du den Befehlen des Alpha Folge zu leisten?"
„Ja."
„Und schwörst du, dem Rat und der Gemeinschaft zu dienen?"
„Ja."
„Möge Luna dich leiten."
„Möge Luna mich leiten." Den letzten Satz murmelte die gesamte Versammlung im Chor.
Der Alpha erhob sich und trat vor meine Mutter. Dann beugte er sich zu ihr herunter und gab ihr einen angedeuteten Kuss auf die Halsbeuge. Dabei küsste der Alpha den Untergebenen nicht wirklich, sondern hält den Kopf für eine kurze Sekunde neben deinen. Diese Geste ersetzt den leichten Biss in das Fell des Halses, wenn wir uns in Wolfsgestalt unterwerfen. Meine Mutter erhob sich wieder.
„Mrs. Haven, es freut mich, sie in meinem Rudel willkommen zu heißen", sagte der Alpha und reichte meiner Mutter die Hand, die wissend lächelte und sie ergriff. Okayyy Mum, der Alpha ist höchstens 30 und du gehst auf die 50 zu. Göttin, diese Frau würde wirklich alles für den Platz im Rat tun. Mir schauderte als ich darüber nachdachte, was sie vielleicht mit ihm...
„June Haven," donnerte die Stimme des Ratsmitgliedes.
Ich ging nach vorn an die Stelle wo eben noch meine Mutter stand und vermied es, dem Alpha in die Augen zu sehen. Schnell kniete ich mich hin und atmete tief durch. Dann lehnte ich meinen Kopf zur rechten Seite und starrte auf die Beine vor mir. Es war eine furchtbare Haltung, ich hasste es. Alles in mir widerstrebte, dass ich mich so schwach und entblößt zeigen musste. Aber auch ich leistete den Schwur, so wie ich ihn bereits als Welpe gelernt hatte.
„Möge Luna mich leiten", murmelte ich und wartete auf die Erlösung aus der Position.
Ich spürte die Hitze, die von dem Alpha ausging, als er sich zu mir herunter beugte. Doch statt nur kurz bei mir zu verharren, spürte ich eine Berührung an meiner empfindlichsten Stelle am Hals. Ein prickelndes Gefühl schoss durch meinen ganzen Körper und ich atmete scharf ein. Hatte ich mir das eingebildet? Oder hatte der Alpha mich gerade tatsächlich leicht auf die Halsbeuge geküsst?
Schnell stand ich auf, hob meinen Kopf und eisgraue Augen trafen auf goldene. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Ich hielt kurz inne und schaute ihn an.
Das Ratsmitglied räusperte sich. Schnell senkte ich den Blick und machte mich auf den Rückweg zu meinem Platz. Den anderen schien nichts aufgefallen zu sein. Göttin, jetzt werde ich auch noch langsam verrückt.

Mein Bruder wurde aufgerufen und auch er brachte den Schwur hinter sich, jedoch mit dem Zusatz das Rudel bedingungslos zu verteidigen. Ab 16 Jahren mussten die männlichen Mitglieder des Rudels den Schwur leisten und am Kampftraining teilnehmen. Also bitte, als ob wir im Mittelalter leben würden. Viele werden ihr Leben lang keine ernsthaften Kämpfe in Wolfsgestalt auszutragen haben.
„Kommen wir zu den anstehenden Haushaltsausgaben. Jace, wärst du so freundlich", leitete das alte Ratsmitglied zur Tagesordnung über. Jace erhob sich und referierte über irgendwelche Kosten für Baupläne, um die Siedlung zu erweitern.
Soso, Jace war also bereits der Omega dieses Rudels. Das heißt, dass sein Vater entweder verstorben oder verstoßen sein musste. Natürlich. Daher rührte also der feindliche Blick seiner Mutter vorhin. Auch sie war scharf auf den Platz der Luna vieja im Rat und hatte offenbar von meiner Mutter Konkurrenz bekommen. Ich stöhnte innerlich auf. Wenn keine von beiden nachgab, würde der Platz erstritten werden. Das endete mit einem Vollmondzirkel, bei dem in der Regel gleich mehrere Streitigkeiten ausgetragen und damit entschieden wurden. Ein Justizsystem gab es in den Rudeln nicht. Hier zählte nur das Überleben des Stärkeren.
Diese Zusammenkünfte fanden viermal im Jahr an Vollmondnächten statt, in denen wir gezwungen sind, uns zu verwandeln. Der Mond hat eine berauschende Wirkung und lässt uns keine Wahl, als buchstäblich den Hund rauszulassen. Da wir mittlerweile Juli hatten und am nächsten Wochenende Vollmond war, würde der nächste Zirkel erst wieder im September stattfinden.
„An der südlichen Grenze brauchen wir verstärkte Kontrollen."
Die Forderung riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufblicken. Feldarbeiter Nr. 2 hatte sich erhoben und schaute mit strengem Blick in die Runde. Er schien also der Beta zu sein. Dieser war für den Schutz des Rudels und die Ausbildung der Heranwachsenden zuständig. Sein Blick blieb auf der Ansammlung der Halbstarken am Ende des Raumes hängen.
„Ihr werdet ab morgen in ein besonderes Training gehen und anschließend die Grenze mit mir und den anderen Wachen ablaufen, verstanden?"
Nach der kurzen Überrumpelung, so direkt angesprochen zu werden, nickten die Heranwachsenden eifrig und stießen sich vor heller Aufregung gegenseitig mit dem Ellenbogen in die Rippen. Bei einigem waren Zähne und Haare schon länger gewachsen, vor lauter Vorfreude und auch mein Bruder grinste wie ein Honigkuchenpferd. Eine Wolke ihres Testosteron-Geruchs wehte zu mir herüber und ich musste lachen. Andere Erwachsene stimmten mit ein und ich sah wie die Männer wissend die Köpfe schüttelten, aber liebevoll ihre Kindern betrachteten, als könnten sie sich noch genau an ihre erste Aufgabe und Ausflug erinnern.
„Ist ja gut!", lachte der Beta und setzte sich wieder hin. „Wie wir damals!", grinste er den Alpha an und rieb sich die Hände.
Zum ersten Mal sah ich so etwas wie ein Lachen auf dem Gesicht des Alphas.  Er grinste wie ein Schuljunge und entblößte dabei seine perfekten Zähne. „Wo du Recht hast..danke, Felix." Der Alpha erhob sich wieder und alle taten es im gleich. „Die Sitzung ist beendet."
Mit diesen Worten verließ er den Raum durch die hintere Tür, gefolgt von ein paar Ratsmitgliedern. Ich atmete tief durch. Die erste Hürde im neuen Rudel war geschafft.

Grey on GoldHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin