21 - Ich hab überhaupt keine Ahnung

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Ganz entgegen Daphnes Behauptung dauert es gar nicht so lange, bis ich mein Fahrrad aus der Garage gekramt habe.

Zwar musste ich dafür erst den Rasenmäher und einige andere Gartengeräte raus- und anschließend wieder reinräumen und vielleicht auch zehn Minuten lang meine Luftpumpe suchen, um die etwas geplätteten Reifen wieder aufzupumpen, doch es ist noch hell draußen, als ich mich auf den Sattel schwinge.

Ich genieße den kühlen Fahrtwind, der schon einen Hauch von Winter mit sich bringt, auf meinem Gesicht, als ich unsere Straße entlangradle und an der Kreuzung auf den Fahrradweg neben der Hauptstraße abbiege.

Während der Fahrt denke ich darüber nach, warum ich nicht öfter mit dem Rad fahre, doch der Grund liegt auf der Hand. Seit Shawns Tod besteht Mom darauf, mich praktisch überall hinzufahren, nicht zuletzt war das auch gestern wieder das Streitthema zwischen Daphne und mir.

Kaum zu glauben, dass es jetzt schon über zwei Jahre her ist, dass ein einziger Anruf unser Leben komplett veränderte.

Shawn war nach der Highschool nach Boston aufs College gegangen, um Betriebswirtschaft zu studieren, und lebte dort wie ein ganz normaler Student. Er jobbte als Barista bei einer der großen Caféketten, wohnte mit zwei Kommilitonen in einer WG, ging unter der Woche zu seinen Kursen und an den Wochenenden auf Partys.

An diesem einen Sonntagabend rief die Polizei an und teilte meinen Eltern mit, dass es einen schrecklichen Unfall gegeben hatte. Shawn und ein paar andere waren nach einer Party mit dem Auto unterwegs nach Hause, der Fahrer hatte laut den Ermittlungen einen Blutalkoholwert, der es ihm eigentlich nicht einmal mehr ermöglicht haben sollte, zum Auto zu gehen, geschweige denn ein Fahrzeug zu fahren.

Nur einen Kilometer vom Ort der Party entfernt war der Wagen von der Straße abgekommen, hatte zwei Bäume touchiert und einen dritten frontal gerammt. Alle Insassen, Shawn als Jüngster von ihnen, starben noch am Unfallort.

Ich kann es meinen Eltern – insbesondere meiner Mom – nicht verdenken, dass sie Angst haben, dass mir etwas ähnliches zustoßen könnte. Während mein Dad sich mit seiner Arbeit ablenkt und dabei versucht, möglichst vielen anderen Menschen zu helfen, hat Mom es sich nach vielen Therapiestunden zur Aufgabe gemacht, mich vor dem gleichen Schicksal zu bewahren. Und für sie bedeutet es eben, dass sie jederzeit bereit ist, für mich ins Auto zu steigen und mich irgendwohin zu fahren. Nüchtern natürlich.

Oft ist Daphnes Argument bei Diskussionen zu diesem Thema, dass es mir gegenüber unfair ist und ich auf diese Weise nicht selbständig werde, doch meine beste Freundin kann nicht wissen, wie hart es für mich war, als ich jeden Tag nach der Schule – damals musste mein Dad mich abholen, weil Mom das Haus nicht verlassen konnte – ihr Weinen aus dem Schlafzimmer hören musste.

Als sie erst viele Wochen und Sitzungen mit ihrer Psychotherapeutin später anbot, mit mir ein Eis essen zu fahren, war ich einfach nur glücklich, meine Mom wieder halbwegs normal zu sehen.

Ich beende meine Grübelei, als mir plötzlich auffällt, dass ich unbewusst den Weg am Friedhof entlang gewählt habe. Vorsichtig blicke ich mich um, doch kann keine anderen Menschen entdecken.

Kurzerhand schließe ich mein Fahrrad am Zaun neben dem Eingang an und betrete das Gelände, während ich meinem Vater eine kurze Nachricht schicke, damit er sich keine Sorgen macht, wo ich bleibe.

Dad

Komme ein bisschen später.
Bin noch bei Shawn.

Er wird wissen, was das bedeutet und da ich den Friedhof in der letzten Zeit gemieden habe, wird er vermutlich auch froh darüber sein, dass ich ausnahmsweise dazu bereit bin hierher zu gehen.

Dass ausgerechnet Shawn selbst oder vielmehr sein Wiederauftauchen der Auslöser dafür war, würde mir ohnehin niemand glauben.

Als hätte ich Blei in meinen Schuhen, gehe ich mit schweren Schritten die schmalen Wege zwischen den einzelnen Gräbern entlang.

Schon immer hat der örtliche Friedhof eine bedrückende Stimmung in mir ausgelöst. Es ist alles so still und selbst die Vögel scheinen hier kaum oder nur ganz leise Geräusche von sich zu geben und wenn man Leuten begegnet, schauen sie einen mit diesen traurigen, mitleidigen Augen an.

In den ersten Wochen und Monaten nach Shawns Tod bin ich entweder abends oder manchmal sogar nachts zu seinem Grab gegangen, weil ich die Blicke der anderen Menschen nicht ertragen konnte.

Ein Teenager auf einem Friedhof wird einfach immer bemitleidet.

Doch da ich nie wusste, was ich vor diesem Stein, auf dem nur sein Name und die Worte Too soon stehen, sagen oder tun sollte, wurden meine Besuche immer seltener.

Jetzt stehe ich wieder davor und streife gedankenverloren ein paar Blätter von dem anthrazitfarbenen Marmor.

„Hey", murmle ich heiser und muss unfreiwillig grinsen, obwohl meine Augen mit Tränen gefüllt sind. Ich komme mir, wie einfach jedes Mal an diesem Ort, irgendwie total dumm vor.

Vielleicht kann er mich gar nicht hören. Und selbst wenn doch – wie sollte er mir antworten? Er wird mir wohl kaum wieder eine Nachricht auf mein Handy schicken.

Mein Blick fällt auf die einzelne, weiße Kerze, die auf dem grasbewachsenen Boden vor dem Grabstein steht. Hilflos taste ich meine Hosen- und Jackentaschen ab, aber welcher siebzehnjährige Nichtraucher hat schon ein Feuerzeug oder Streichhölzer dabei?

Aus einem Instinkt heraus umrunde ich einmal den Grabstein und entdecke allen Ernstes eine in Plastikfolie gewickelte, kleine Schachtel Streichhölzer auf einem Vorsprung dahinter. Vermutlich hat meine Mom sie dort für ihre Besuche platziert.

Ich reiße eines der kleinen Hölzchen an, hocke mich vor die Kerze und entzünde den Docht. Wie bei der Party am Freitag starre ich in die Flamme und lenke all meine Gedanken auf meinen Bruder.

„Shawn, wenn du mich hören kannst", wispere ich mit bebender Stimme. „Ich ... ich weiß, wir haben uns schon verabschiedet, aber ..." Ich schlucke schwer und wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel. „Es war einfach toll, nochmal mit dir reden zu können und zu wissen, dass du ... dass du okay bist. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt und ich hoffe, das Ganze hatte wirklich irgendeinen Sinn, denn ..."

Ich schniefe einmal laut und lache unbeholfen. „Ich hab überhaupt keine Ahnung, ob ich mir das alles nur eingebildet habe oder ob es wirklich stimmt, was du erzählt hast und wenn ja, wie ich ihm helfen soll, weißt du?"

Die Flamme auf der Kerze flackert nur still vor sich hin, doch die erhoffte Antwort bleibt aus.

Ich räuspere mich und stehe langsam wieder auf, mein verschwommener Blick noch immer auf das kleine Feuer gerichtet. „Wäre schon hilfreich gewesen, wenn du mir gesagt hättest, was du dir hast einfallen lassen, du alter Spinner."

Genau in diesem Moment erlischt die Flamme und ein schmaler Rauchfaden steigt aus dem Docht nach oben. Reflexartig halte ich die Luft an und blicke nach links und rechts, um zu überprüfen, ob mein Bruder nicht doch plötzlich wieder vor mir steht. In welchem Körper auch immer.

Doch ich bin immer noch ganz allein und so drehe ich mich um und erstarre in meiner Bewegung.

Dort hinten, auf der Bank unter einer Trauerweide, die im Zentrum des Friedhofs steht, sitzt Simon Donovan und schaut zu mir.

Begeisterung | ✓Where stories live. Discover now