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Elisabeth ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Jeder war mit der Suppe beschäftigt und sie konnte ganz unterschiedliche Standards an Tischmanieren beobachten. Grigorij, der ihr gegenüber saß, fiel ihr besonders negativ auf, da er noch nicht einmal die Serviette ausgebreitet hatte. Die junge Frau an seiner Seite kippte gerade die Schüssel ein wenig zu sich, um an die letzten Tropfen der Suppe zu kommen. Fjodor, in ein Gespräch mit Alex vertieft, griff nach seinem Weinglas, ohne sich vorher den Mund abzuwischen.

Schmunzelnd richtete Elisabeth ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Sitznachbarin. Sie war nicht hier, um die Etikette der Gäste zu beurteilen, so aufschlussreich ihre Beobachtungen auch waren. „Du wurdest auf offener Straße belästigt?", hakte sie nach.

Nicole leckte sich einmal über die Lippen, ehe sie nach ihrem Glas griff und die letzten Schlucke Sekt austrank. „Warst du schon mal auf St. Pauli? Wenn man da in gewissen Straßen arbeitet, muss man leider damit rechnen, dass ein paar Johns sich nicht an die Regeln halten."

Elisabeth ging ein Licht auf. Nicole hatte offensichtlich zuvor als Prostituierte gearbeitet. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass St. Pauli in der Tat ein raues Pflaster sein konnte, wenn man in die falschen Straßen geriet. „Und Michail ist einfach so eingeschritten?"

Nicole warf dem Mann an ihrer Seite ein Lächeln zu, das dieser erwiderte, als sie ihm eine Hand auf den Arm legte. Elisabeth meinte, echte Zuneigung zwischen den beiden zu sehen, doch da sie selbst eine Beziehung zu Alex vortäuschte, war es genauso möglich, dass sie es hier mit guten Schauspielkünsten zu tun hatte.

„Er ist ein Gentleman der alten Schule", erklärte Nicole. „Er hat den Männern ziemlich deutlich erklärt, was er von ihrem Verhalten hält, und da sind sie schnell abgedampft. Danach hat er mich für die ganze Nacht bezahlt und mitgenommen." Ein schelmisches Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. „Als ich am Morgen fertig war mit ihm, hat er sich geweigert, mich gehen zu lassen. Seitdem lebe ich bei ihm."

Elisabeth kicherte hinter vorgehaltener Hand. Dann kippte sie elegant den Teller ein wenig von sich weg, um an den letzten Rest der Suppe zu gelangen. Schließlich legte sie den Löffel zurück auf den Unterteller und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Um sie herum wurden die anderen ebenfalls mit der Vorsuppe fertig und wie aufs Stichwort erschienen die Kellner wieder, um die Suppe abzuräumen.

Kaum waren die Kellner mit den leeren Suppentellern durch die Tür verschwunden, traten neue ein, die den zweiten Gang brachten: Jakobsmuscheln auf Blumenkohlpüree mit einer Scheibe Pancetta. Elisabeth zwang sich, ihr höfliches Lächeln zu behalten. Natürlich gab es Jakobsmuscheln. Sie konnte sich an kaum ein feines Essen mit ihren Eltern erinnern, wo es ein Menü ohne diese Delikatesse gab. Doch so teuer diese Meeresfrüchte auch waren, sie hatte sie noch nie gemocht.

„Das hier", raunte ihr Nicole von der Seite zu und deutete mit ihrer Gabel auf den Teller vor sich, „ist eines der vielen Dinge, die ich dank Michail kennengelernt habe! Ich liebe Jakobsmuscheln!"

„Und genau deswegen stehen sie auf jedem Menü, solange ich entscheiden kann", kam es von dem älteren Herrn.

Elisabeth schnaubte amüsiert und beschloss, ihre Abneigung für sich zu behalten. Sie nahm stattdessen den Gesprächsfaden wieder auf: „Arbeitest du noch, seitdem du mit ihm zusammen bist?"

Nicole kaute genüsslich auf einem Bissen, ehe sie ihn mit einem wohligen Seufzer schluckte und dann zu einer Antwort ansetzte. „Im Moment nicht. Ich will schon irgendwann wieder arbeiten, aber im Moment habe ich zu viel Spaß daran, einfach tun und lassen zu können, was ich möchte."

Dazu nickte Elisabeth bloß. Sie konnte den Reiz verstehen, den diese Freiheit hatte, insbesondere auf jemanden wie Nicole, die vermutlich ihr Leben lang nur harte Arbeit gekannt hatte. Ihre eigenen Eltern hatte sie zu schulischen Höchstleistungen getrieben und ihr immer klar gemacht, dass sie erwarteten, dass Elisabeth eines Tages das Unternehmen führen würde. Ebenso hatten sie ihr aber immer auch zugesichert, dass sie alles bekommen würde, was sie wollte. Ein Praktikum hier, eine Studienzulassung da. An Vitamin B hatte es ihr nie gemangelt, und insbesondere ihr Vater hatte ihr stets gezeigt, dass es für sie keine Einschränkungen gab, solange sie nur strebsam war.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 16, 2022 ⏰

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