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TW Selbstverletzung



Die Blätter der Linde, die direkt vor meinem Fenster stand, hatten sich mittlerweile rötlich verfärbt. 
Verrückt. Ich konnte nicht aufhören sie anzustarren. Meine Welt war bereits vor Wochen stehen geblieben und dennoch drehte sie sich weiter. Wie war das überhaupt möglich? Alles nahm seinen gewohnten Lauf. Das musste ein Fehler sein. Eine Illusion. 
Die meiste Zeit fühlte ich mich wie gelähmt. 
Die Taubheit ummantelte meine Seele und ich hieß sie dankend willkommen. 
Sie schützte mich. Denn nach der Leere kam der Schmerz. 
Also klammerte ich mich an sie, wie ein Ertrinkender an seinen Rettungsring. 
Mein knurrender Magen zog sich schmerzhaft zusammen. 
Es war Tage her, dass ich das letzte Mal versucht hatte etwas zu essen. Für Elias. 
Allein bei dem Gedanken daran wurde mir kotzübel.
Mein Körper funktionierte nicht mehr. 
Alex' Tod hatte mein Herz so heftig zerstückelt, dass ich kaputt gegangen bin. 
Kaputter, als ich je dachte sein zu können.
Mein Handy hatte die ersten Tage in Dauerschleife geklingelt. 
Als sie merkten, dass ich jeden Anruf wegdrückte, bombardierten sie mich mit Nachrichten. 

"Warum warst du die letzten Tage nicht in der Uni?"

"Ist alles okay bei dir?"

"Wir machen uns echt langsam Sorgen. Bitte melde dich."

"Ich habe mit Nate gesprochen. Bitte ruf mich sofort an!"

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Also hatte ich mein Handy kurzerhand aus dem Fenster geworfen. Sie wollten einfach nicht verstehen, dass ihre Emma gestorben war. 
Sein Verlust hatte zwar meine Hülle zurückgelassen, doch wo vorher Blumen in mir geblüht hatten, war jetzt nichts weiter übrig, als trostlose, graue Asche. 
Statt Sonne gab es nur noch tiefste Dunkelheit. 
Ich hatte mich selbst verloren.
Plötzlich überkam mich unbändige Angst.
Davor, dass der Winter in mir niemals vergehen würde.
Dass ich mich für den Rest meines Lebens so fühlen müsste. 
Ein heftiger Zitteranfall erfasste mich und da war sie wieder.
Diese gehässige Stimme in meinem Kopf, die sich seit seinem Tod in meine Gedanken eingenistet hatte.

"Du hättest nichts anderes verdient. Du verlangst doch nicht ernsthaft irgendwann wieder nur ansatzweise so etwas wie Freude zu empfinden? Alex ist für immer weg. Er ist tot und kommt nie wieder zurück. All die Jahre, die noch vor ihm lagen, jeder einzelne glückliche und traurige Moment seiner Zunkunft wurde ihm von dir genommen.  
Nur du hast Schuld daran, dass er eine gefährliche Mission nach der nächsten angenommen hat. Er hätte noch immer unterrichtet, wenn es dich nicht gäbe. Er hätte diesen verdammten Einsatz nie angenommen. Es ist allein deine Schuld, dass er dort war. Nur wegen dir wurde er erschossen. Du hast ihn getötet!"

Die Schuldgefühle ließen mich brennen. Immer wieder schüttelte ich den Kopf, versuchte die Stimme zu vertreiben, doch sie wollte einfach nicht leise sein. Denn sie hatte recht. Und das wusste sie. 
Ohne mich wäre Alex noch am Leben.
Hätte es dieses dämliche Gespräch zwischen uns nie gegeben, wäre er jetzt hier. 
Die Taubheit entglitt mir und plötzlich spürte ich die Flammen, die mich verbrannten; die Messer, die unaufhörlich auf meinen Brustkorb einstachen; und die Scherben, die viel zu klein und viel zu scharf waren um sie je wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. 
Panik stieg in mir auf. 
Meine Hände bebten unkontrolliert. 
Ich war noch nicht bereit für den Schmerz.
Mein Magen verkrampfte sich.
Von meiner Verzweiflung getrieben griff ich nach dem spitzesten Bleistift in meiner Reichweite und stach zu. Jeder rationale Gedanke in mir hatte sich schon lange verabschiedet. 
Dickes, dunkles Blut quoll aus der Wunde zwischen Daumen und Zeigefinger. 
Das physische Brennen ließ mich aufatmen und da war sie wieder. 
Die Leere in mir. 
Wäre ich nicht so kraftlos, hätte ich fast aufgelacht. 
Ich war ihm entkommen. 
Erst als ich den festen Griff an meiner Schulter spürte, bemerkte ich, dass jemand mein Zimmer betreten hatte. 
Ich hatte den Raum seit Wochen kaum verlassen. 
Elias' fassungsloser Blick zerrte an meinem dünnen Nervenkostüm. Seine vor Schock geweiteten Augen fixierten die Wunde auf meiner linken Hand. 

"Ich dachte du wärst in der Uni." Meine Stimme klang belegt. 
Erst jetzt bemerkte ich den duftenden Teller voller Pfannkuchen in seiner Hand.

"Wa-was hast du getan?" Tränen glitzerten in den Augen meines Bruders.
Der Anblick schnürte mir die Kehle zu.
"Das ist nichts." Hastig versuchte ich die Hand wegzuziehen, doch Elias war schneller. Seine kalten, zittrigen Finger schlossen sich um mein Handgelenk. 
"Nichts?" Er spuckte das Wort förmlich aus. "Nichts? So nennst du das also?" 
Erst jetzt schien mein Bruder den blutverschmierten Bleistift zu bemerken. 
Auf einmal sah er so aus, als ob ihm speiübel wäre.
"Ich... Tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen."
Ich wusste, dass jedes meiner Worte gelogen war, doch die Sorge in seinen Augen machte mich wahnsinnig.
Elias entwich ein fassungsloses Schnauben. 
"Emma, du brauchst Hilfe." 
Seine Stimme klang erstickt.
Der verzweifelte Ausdruck in seinem Gesicht versetzte mir einen Stich. 
Er hatte eine bessere Schwester, als mich verdient. 
Eine, die ihm keine schlaflosen Nächte bereitete.
Doch ich war nunmal ich.
Und er musste endlich aufhören zu hoffen.
Also schüttelte ich schwach den Kopf.

"Ich bin kaputt Elias. So kaputt, dass es nichts mehr zu reparieren gibt."

Mit diesen Worten wandte ich mich wieder den rötlichen Lindenblättern vor meinem Fenster zu und wartete bis er mich endlich wieder allein ließ. 



GeneticWhere stories live. Discover now