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Als ich aus der verrückten Welt meiner Träume auftauchte fühlte ich mich tonnenschwer. Obwohl ich Alex nun schon seit Wochen nicht gesehen hatte, schlich er sich jede Nacht in meinen Kopf und machte mir das Leben schwer.
Die Müdigkeit zwang meine Augenlider an ihrem Platz zu verharren. Dahinter sah ich in ein für meinen Geschmack viel zu helles Grau, was unweigerlich bedeutete, dass die Sonne bereits erbarmungslos durch mein Dachfenster hineinlachte. Ich war noch nicht bereit für einen weiteren  Tag. Erst recht nicht, da ich heute schon wieder zur Uni gehen musste.
Seit einiger Zeit hatte diese eigenartige Professorin seinen Platz eingenommen. Sie wirkte nett. Ich hasste sie trotzdem. Alex sollte an ihrer Stelle stehen, uns Übungen erklären und Aufgaben geben. 
Wenigstens war ich nicht die Einzige, die dieser Meinung war. Als Professor Morris verkündet hatte, dass Alex von nun an nicht mehr an dieser Universität unterrichten würde um sich mehr praktischen Einsätzen zu widmen, hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen in Hörweite gleich in Tränen ausbrechen würden. Mich eingeschlossen.

Sanfte Küsse kitzelten die Haut meiner Wange.
"Tot stellen bringt nichts. Du musst aufstehen, sonst kommst du zu spät." Nates Stimme klang viel rauer, wenn er noch müde war. 

"Mh. Und was wenn ich zu spät kommen will?", erwiderte ich schleppend.
"Dann muss ich dich leider durchkitzeln." Der neckende Unterton in seiner Stimme konnte mich nicht täuschen. Die letzten Wochen hatten mich gelehrt diese Drohungen ernst zu nehmen. Leider.
"Das wagst du nicht." Mühsam schlug ich die Augen auf  und blinzelte gegen das viel zu helle Licht an.
"Find's raus." Herausfordernd zog mein Freund eine Augenbraue hoch. Oh nein. Dieses Risiko wollte ich auf keinen Fall eingehen. Außerdem hatte es eh keinen Sinn jetzt noch so zu tun, als würde ich schlafen. 

Begleitet von einem leisen Murren streckte ich alle Gliedmaßen von mir. Knack. Knack.
Kann bitte mal jemand meinem Körper mitteilen, dass ich erst 18 Jahre alt bin? Diese Abnutzungserscheinungen kamen eindeutig von dem ganzen Sport. Es verging kaum ein Tag ohne Muskelkater.
Widerwillig hievte ich mich aus dem Bett. "Machen wir heute Nachmittag etwas zusammen?", fragte ich, während ich in eine dunkle Jeans und einen grauen Wollpullover schlüpfte.
"Klar, wie immer." Nate grinste mich an und ließ dadurch für einen Augenblick unweigerlich diese altbekannte Wärme in mir aufsteigen. Der Moment war allerdings genauso schnell wieder vorbei, wie er gekommen war. Die Wärme erstarb und zurück blieb allein das Gefühl einen riesigen Fehler gemacht zu haben.
Der kalte Ausdruck in Alex' Gesicht, blitzte unweigerlich vor meinem inneren Auge auf und versetzte mir einen Stich. Fuck. Okay, ganz ruhig. Ich habe das Richtige getan. Ich habe das Richtige getan. Ich wiederholte die Worte in Gedanken wieder und wieder, als wären sie mein Mantra. 



Die Uni war anstrengend. Würde Mina mir nicht regelmäßig ihre gut sortierten Notizen ausleihen, wäre ich schon längst aufgeschmissen gewesen. Besonderes Gen hin oder her, die Theorie wollte einfach nicht in meinen Kopf gehen.
"Emma, hast du auch Lust heute Nachmittag mit uns auf den Rummel zu gehen?", fragte Eddi unvermittelt.
"Oh, ähm, warte, ich muss kurz Nate fragen. Wir sind heute schon verabredet." Ich fischte mein Handy aus dem Rucksack und tippte die Nachricht an meinen Freund ein. Nur wenige Minuten später ertönte ein Ping und eine neue Nachricht erschien auf meinem Display: 
"Ich würde lieber etwas Zeit zu zweit mit dir verbringen." 
Ich konnte nichts gegen die Enttäuschung tun, die in mir aufstieg. Ein lustiger Nachmittag mit meinen Freunden hätte mich vielleicht wenigstens ein bisschen von diesem blöden Gefühl ablenken können, was sich seit dem Gespräch mit Alex in meinen Bauch eingenistet hatte. 

Ich sperrte mein Handy und ließ es zurück in meinen Rucksack gleiten.
"Sorry, aber das klappt heute nicht." Eddi fasste sich theatralisch an die linke Brust und seufzte übertrieben.
"Du willst mich echt mit der da allein lassen?" Verschwörerisch schielte er zu Mina, die ihn nur mit einem gemurmelten "Spinner" bedachte. Grinsend verdrehte ich meine Augen.
"Du wirst es überleben."

Nach weiteren 90 Minuten mit Professor aka professionellem Fertimacher Lloyd, hatten wir endlich Schluss. "Lasst uns nächsten Mittwoch zusammen für die Klausur lernen.", schlug Mina vor und erntete sofort begeistertes Nicken von Eddi und mir.
"Also dann, bis morgen!", verabschiedete ich mich und ging schnurstracks auf Nates kleines Auto zu, was bereits auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang auf mich wartete. 

"Hey, danke fürs Abholen." Ich schmiss den Rucksack in den Kofferraum und drückte meinem Freund einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. 
"Ich dachte wir fahren heute mal picknicken. Hast du mehr Lust auf Wald oder See?", fragte dieser grinsend. Erst jetzt bemerkte ich die alte Wolldecke und den großen, wohlriechenden Korb auf der Rückbank. 
"Oh mein Gott, tolle Idee. Mh... Ich bin für See." Nur mit Mühe konnte ich verhindern vor Begeisterung in die Hände zu klatschen. 

Nur eine halbe Stunde später saßen wir auf einem Steg am schönsten See in der ganzen Umgebung. Er wurde von zahllosen, weißen Seerosen gesäumt und beherrbergte nicht nur Frösche, die fröhlich um die Wette sprangen, sondern auch eine hohe Artenvielfalt an Fischen, da Angeln hier verboten war. Das Wasser war unheimlich klar und durch die dichte Bewaldung um den See herum, hatten wir das Privileg einem pompösen Vogelkonzert lauschen zu dürfen. 
Kurzum - wir befanden uns am vermutlich märchenhaftesten Ort auf der Welt. 
Würde gleich eine Fee an uns vorbei fliegen, wäre ich nicht verwundert.
Nate begann verschiedenste Köstlichkeiten aus dem gigantischen Korb, den er mitgebracht hatte, auf der Decke auszubreiten. 
Darunter befanden sich verschiedenste Früchte, Marmorkuchen, Gemüsestreifen und mein Lieblingsgericht: Kartoffelspalten mit Tomatendip. 
"Wow, habe ich dir schonmal gesagt, dass du der Hammer bist?", nuschelte ich während ich auf einem Apfelstück herumkaute.
"Das kann man nie oft genug sagen.", erwiderte Nate grinsend uns ließ sich mit dem Rücken auf die Decke sinken. 
Dieser Moment war perfekt. Und dennoch wurde ich dieses verdammte Gefühl in mir einfach nicht los. Immer wieder schlichen sich zwei eisblaue Augen in meine Gedanken. Was war nur los mit mir? 
"Sag mal, wie geht's eigentlich Alex?"

Bevor ich mich stoppen konnte, hatten die Worte meinen Mund verlassen. Fuck, zu was für einem Menschen bin ich eigentlich geworden? Nichts reichte mir. Immer wieder hing ich in Gedanken bei der Person, an die ich eigentlich am wenigsten denken durfte.
Nate - der Mensch den ich doch eigentlich liebte - und ich waren am wunderschönsten Ort, den es gab und aßen verdammt geiles Essen. Was zur Hölle stimmte nicht mit mir, dass ich jetzt ausgerechnet an Alex dachte und dann auch noch diese Frage stellte. Es ging mich absolut nichts an. 

Bevor ich zurückrudern konnte, begann Nate schon zu reden. 
"Tja, gute Frage. Er sagt immer wieder unsere Treffen ab und hat kaum Zeit sich zu melden. Ich habe das Gefühl, dass er 24/7 nur noch auf Einsätzen ist und irgendwelche Verbrecher jagt. Ich meine, klar, das ist seine Leidenschaft und er ist scheinbar auch verdammt gut darin, aber er arbeitet NUR noch. Vermutlich könnte er seine Wohnung sogar kündigen, weil er jedes Mal tagelang weg ist um dann eh nur für ein paar Stunden wieder hier zu sein und wieder tagelang wegzugehen. Keine Ahnung warum er sich da plötzlich so krass reinstürzt, aber ich finde das um ehrlich zu sein viel zu viel Arbeit und viel zu wenig Leben. Und diese Einsätze, die er da macht sind ja auch nicht gerade ungefählich. Echt schade, dass er keinen Bock mehr hatte zu unterrichten. Da kann man sich wenigstens nicht ernsthaft verletzen."
Augenblicklich traf mich das schlechte Gewissen. 
Ich war daran schuld, dass Alex nicht mehr unterrichtete. Und jetzt begab er sich immer öfter auf riskante Einsätze. Mein Magen verkrampfte sich. Mit einem Mal war mir der Appetit vergangen.

Nachdenklich schob sich Nate ein Stückchen Kuchen in dem Mund. "Vielleicht verliebt er sich ja auch irgendwann. Würde ihm auf jeden Fall gut tuen. Ich meine, das ist vermutlich das effektivste Mittel um jemanden am Arbeiten zu hindern. Siehe meine morgige Klausur. Normalerweise würde ich jetzt alles zur Epoche der frühen Moderne durchforsten, aber stattdessen liege ich hier. Mit dir."

Das zutiefst glückliche Funkeln, was plötzlich in Nates Augen trat, stürzte meine Gedanken endgültig ins Chaos.

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