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Als mein Wecker morgens klingelte fühlte ich mich, wie eine Betonstatur. Mit allergrößter Mühe schaffte ich es meinen Arm zu heben um auf den Ausschalter zu drücken. Nachdem ich gestern zu Hause war, lag ich noch ewig wach. Irgendwann hatte ich mich dazu entschlossen Rosi anzurufen. Ich fühlte mich, wie eine schlechte Freundin ihr nichts von all dem erzählt zu haben, doch allein ihre Stimme zu hören hatte mehr als gut getan. Ich musste wohl irgendwann während des Telefonates eingeschlafen sein. 

Verschlafen rieb ich meine müden Augen und setze mich schwerfällig auf. Ist das alles wirklich passiert? Der Kuss, dieses Haus. Dieser gottverdammt unglaubliche Kuss... allein bei dem Gedanken an seine weichen Lippen bildete sich eine verheißungsvolle Wärme in meinem verräterischen Körper, die da absolut nichts zu suchen hatte. Ich schüttelte meinen Kopf. 

Das war zu viel am frühen Morgen. Wäre das nicht erst meine zweite Woche am Campus würde ich heute schwänzen. Bleiern stieg ich aus meinem Bett und zog mich in Zeitlupe an.

Ich hatte eine Stunde um mich in ein halbwegs menschlich aussehendes Wesen zu verwandeln. Stehen war jetzt definitiv noch zu anstrengend, also setzte ich mich im Schneidersitz vor den Spiegel und begann in meinem Gesicht herumzupinseln.

Nach einer halben Stunde waren keine Augenringe mehr zu erkennen und Dank ein bisschen Rouge sah ich nicht mehr aus, wie eine Halbtote. Meine Haare waren in einen lockeren Pferdeschwanz gebunden und fielen über den bequemen schwarzen Hoodie, den Nate mal bei mir vergessen hatte. Der war jetzt einfach genau das Richtige. Mein bester Freund würde schon nichts dagegen haben.

„Ding Dong"

Ich sah auf die Uhr. Kurz vor 7:30 Uhr, für den Postboten war das ziemlich früh.

Als ich die Tür öffnete, sah ich in 2 dunkle Augen, umrahmt von blasser Haut.

„Nate, was machst du denn hier?", ich zwang meine erschöpften Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln.

„Ich muss heute eh zu deinem Campus, weil ich dort noch etwas in der Bibliothek abgeben muss. Da dachte ich mir, begleite ich meine Lieblingsfreundin doch einfach zu ihrer Uni. Schicker Pulli übrigens. Wenn wir laufen müssten wir jetzt übrigens los."

Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Typisch Nate.

Ich schulterte meinen Rucksack und schlüpfte in meine Chucks. „Na dann, worauf warten wir noch?" Nate zog die Tür hinter mir zu. Der Himmel war immer noch leicht gerötet und ein dünner Nebelschleier schwebte über den Wiesen unserer Stadt.

„Was musst du denn abgeben?", fragte ich den dunkelhaarigen Jungen neben mir.

„Vor 2 Wochen habe ich mir ein paar Bücher über die Geschichte der Army ausgeliehen. Das brauchte ich für eine Hausarbeit." „Klingt spannend."

Nate studierte in einer privaten Hochschule ein paar Straßen weiter. Anders als ich, wusste er lange nicht, in welche Richtung er gehen wollte. Doch mittlerweile schien er sehr zufrieden mit Geschichtswissenschaften zu sein. Wenn er von alten Epochen und Kaisern sprach, wirkte es so, als würde er in dieser Zeit versinken und sich gedanklich gerade in einem prunkvollen Schloss oder auf einem Marktplatz im Mittelalter befinden. Diese Gabe der Vorstellungskraft hatte ich schon immer sehr an ihm bewundert.

Als Nate die detailreiche Schilderung über seiner Hausarbeit beendet hatte, waren wir fast angekommen.

„Du bist die ganze Zeit so ruhig. Ist alles in Ordnung?" Mein bester Freund musterte mich von der Seite. Ihm entging nichts. Wenn ich jetzt log würde er es sofort merken, also zuckte ich nur mit den Schultern. „Ich habe zur Zeit Stress. Das ist alles ein bisschen viel."

Nate zog die Augenbrauen hoch. „Was ist passiert?"

„Emma!", von Weitem hörte ich Minas Stimme. Gott sei Dank. Sie war meine Rettung. Ich hatte noch nie Geheimnisse vor meinem besten Freund, doch ich konnte ihm einfach nichts sagen. Entschuldigend lächelte ich Nate an, während mich dieser weiterhin besorgt musterte.

„Hi Em. Gestern noch gut nach Hause gekommen?", fragte das blonde Mädchen.

„Jap, das ist übrigens mein bester Freund Nate. Nate Mina, Mina Nate." Ich gestikulierte zwischen meinen beiden Freunden hin und her. „Freut mich sehr dich kennenzulernen Nate.", antwortete Mina lächelnd. „Das kann ich nur zurückgeben.", erwiderte ihr Gegenüber.

„Oh, da hinten ist Eddi." Das blonde Mädchen winkte dem Rothaarigen enthusiastisch zu. Bewundernswert und abartig zugleich, wie viel Energie und gute Laune sie bereits am frühen Morgen hatte.

„Bis gleich", sagte sie mit einem Augenzwinkern und lief auf unseren Mitschüler zu.

„Wirklich nett deine neuen Freunde." Nates Blick war immer noch prüfend.

„Ja, das sind sie wirklich. Bitte hör auf dir Sorgen zu machen. Mir geht es gut." Wie automatisch griff ich nach seiner Hand. 

Schon im Kindergarten hatten wir immer aufeinander aufgepasst. Wenn ich seine Hand hielt und er meine, dann wussten wir dass wir mit all unseren Problemen und Sorgen nie allein sein würden. So war es beim Tod meines Vaters, beim Verlust seiner Großeltern und auch als seine Eltern überlegten wegzuziehen. Alles war nur noch halb so schwer, da wir hier und jetzt einander hatten. 

„Okay.", antwortete Nate. Und ich wusste, dass es wirklich okay war.

Plötzlich spürte ich einen intensiven Blick von der Seite. Er brannte sich regelrecht in meine Haut. Als wüsste mein Körper sofort, wer es ist, begann mein Herz zu rasen.

„Oh hi Alex.", Nate ließ meine Hand los um seinen Bruder zu umarmen.

Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Gestern hatten wir uns noch geküsst und heute wäre es sogar eigenartig ihn nur zu umarmen. 

Alex' Blick war noch immer starr auf mich gerichtet. Die distanzierte Kälte ich seinen Augen ließ mich regelrecht frösteln. Selbst bei unserem ersten Aufeinandertreffen hatte er mich nicht auf diese Art angesehen. Von dem freundlichen Alex von gestern war nichts mehr übrig. Mein Herz geriet aus dem Takt und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus. 

Warum sah er mich so an? War das wirklich der gleiche Typ, der erst vor wenigen Stunden diese unglaubliche Hitze in mir entfacht hatte? Für einen kurzen Augenblick zweifelte ich an mir selbst. Was war geschehen? 

Alex' Blick glitt quälend langsam über meinen Körper, blieb ein paar Sekunden zu lange an Nates Hoodie hängen, bis er sich schließlich seinem Bruder zuwandte. Noch immer glich sein Gesicht einer emotionslosen Maske. Sein Verhalten versetzte mir einen Stich und ich wollte lieber nicht genauer darüber nachdenken, warum es mich verletzte. 

"Ich geh dann mal. Bis später." Mit einer flüchtigen Umarmung verabschiedete ich mich bei meinem besten Freund, bevor ich eilig in Richtung Hauptgebäude eilte. Ich vermied es Alex erneut anzusehen. Dennoch spürte ich, wie sein Blick sich in meinen Rücken brannte.

Ich bemerkte erst jetzt, dass ich ernsthaft die Hoffnung hatte, dass Alex mich mögen könnte. Tja, da war ja sogar die römisch-katholische Kirche mit der Annahme, dass die Erde eine Scheibe sei, näher an der Realität.  

Die Vorlesungen rauschten, wie in Zeitraffer an mir vorbei. Meine Konzentration war nicht vorhanden, immer wieder schweifte ich mit meinen Gedanken zu Alex ab und seinem Verhalten heute morgen. Was war geschehen?

Das metallene Klingelsignal holte mich zurück in die Realität.

„Na endlich.", Eddi schob das Buch in seinen grünen Rucksack.

„Feierabend.", ergänzte Mina grinsend.

Nachdem ich mich von den anderen verabschiedet hatte, ging ich wie gewohnt zu den Fahrradständern. Aber wo... stimmt ja, ich bin heute hergelaufen.

Als ich mich umdrehte um meinen Heimweg anzutreten, sah ich Alex, nur ein paar Meter entfernt stehen. Seine blauen Augen waren direkt auf mich gerichtet. Sie wirkten nicht mehr so kalt, wie heute Morgen und es lag noch etwas anderes in seinem Blick. Noch bevor ich erkennen konnte was es war wandte er mir den Rücken zu.

GeneticWhere stories live. Discover now