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Amandas Zimmernachbarin Aisha ließ sich bis zum späten Sonntag Abend nicht blicken. Sie war irgendwann am Samstag angekommen, das bewiesen die großen Koffer und die zwei Reisetaschen auf ihrem Bett. Aber entweder sie war unsichtbar, oder sie hatte von dem Zusammenstoß am Freitag gehört und mied die Hexe nun um jeden Preis. Mit beidem konnte Amanda leben. Ihr Tagesablauf ließ eh nicht viel Zeit für sinnlosen Smalltalk.

Sie stand im Morgengrauen auf, um vor allen anderen beim Frühstück und auf dem Trainingsgelände zu sein. Es war immer noch seltsam, im Dunkeln über das Gelände streifen zu können, ohne sich ständig nach Gefahren umsehen zu müssen. Ihren Gehör-Zauber konnte Amanda trotzdem noch nicht loslassen. Er war das erste, was sie morgens tat, noch bevor sie das Bett verließ. Wenn die Leute hier erfahren würden, dass sie fast nichts hören konnte, würden sie versuchen diese Schwäche auszunutzen. Und dafür wollte Amanda wirklich keine zusätzliche Energie aufwenden. Denn nur wenn sie ihre Aufmerksamkeit voll und ganz aufs Training richten konnte, würde sie die erwarteten Fortschritte machen.

Der einzige Vorteil, den Amandas ständige Anspannung mit sich brachte war, dass sie niemals von anderen Schülern überrascht werden konnte. Sobald sich die ersten Eifrigen aus der Akademie aufmachten zum Trainingsgelände, brach Amanda ihr Training ab. Das volle Potential ihrer Fähigkeiten sollte ein Geheimnis bleiben, bis endlich der Kampf um die Ranglistenplätze eröffnet war. Allerdings war Amanda mehr als bereit, die Konkurrenz auszukundschaften. Oft genug blieb sie bis zum Mittag in der Nähe und beobachtete die Magischen bei ihren kleinen Aufwärmübungen. Das konnte nicht das Niveau der Darkwood sein. Wahrscheinlich, so mutmaßte die Hexe, taten es ihr die anderen Magischen gleich und hielten sich zurück.

Amanda hätte beinahe wieder vergessen, dass sie sich ihr Zimmer mit jemandem teilte, bis Frau Salomon am Sonntag Nachmittag vorbei kam, um zu sehen, wie Amanda sich einlebte.
Im Schatten der eindrucksvollen Frau huschte eine junge Frau vorbei ins Zimmer.

"Oh Aisha, hattest du schöne Ferien?", fragte die Schulleiterin, doch die Angesprochene nuschelte nur etwas Undeutliches, griff sich eine ihrer Sporttaschen vom Bett und verschwand genauso schnell wieder, wie sie gekommen war.

Amanda hatte zwar fast nichts von Aisha gesehen, aber ihr war aufgefallen, dass die Schulleiterin sie gedutzt hatte, wohin gegen sie bei Amanda immer noch höflich Sie sagte. War das ein gutes Zeichen?

"Was kann ich für Sie tun, Frau Salomon?" Amanda stand vom Schreibtisch auf, um nicht unhöflich zu erscheinen. Die wenigen Tage hatten gereicht um in Amanda das dringende Bedürfnis zu wecken, an der Darkwood zu bleiben. Etwas an diesem Ort nährte eine Magie in ihr, die sie lange nicht mehr gespürt hatte.

"Ich wollte nur sehen, ob Sie es wenigstens mal einen Tag ohne Ärger aushalten." Auch wenn ihre Worte streng waren, waren die Augen der Frau warm. "Da Sie sich ja gegen meinen Ratschlag entschieden haben, sollte ich Sie wissen lassen, dass wir morgen um neun eine Versammlung zum Beginn des Semesters haben." Die Lichtfee trat auf Amandas Seite des Zimmers.

Es hatte sich seit ihrem Einzug nicht viel geändert. Eine Menge Schul- und Sachbücher standen im Regal oder stapelten sich auf dem Schreibtisch. Nur ein Foto hatte Amanda mitgenommen. Das einzig wirklich persönliche.

"Ihre Familie?", fragte die Frau und beugte sich vor. Erst wenn man nah heran ging, konnte man erkennen, dass Amanda das Foto so geknickt hatte, dass das Gesicht ihrer Mutter nicht mehr zu sehen war. Stattdessen fügte sich das Gesicht aus dem Beispielbild, das man mit dem Kauf des Rahmens dazu bekam, perfekt in die freie Stelle ein. Zuerst hatte Amanda das fremde Bild entfernen wollen, doch wenn sie ehrlich war, gefiel es ihr so. Immerhin musste sie so keine Fragen beantworten - so lange niemand nah genug an das Bild heran trat, um den Knick zu sehen.

(Making of) Fate - New MagicWhere stories live. Discover now