Kapitel 7

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Piep piep piep

Müde schlug ich meine Augen auf und sah mit verschleiertem Blick in Richtung des Weckers, der die lauten Töne von sich gab. Mit schweren Gliedern stand ich auf, bereute es aber noch im gleichen Moment, da mein Kopf sich anfühlte als würde jemand mit einem Presslufthammer darauf rumhämmern. Stöhnend fasste ich mir an meine Schläfen. Stechende Schmerzen rasten bei jeder Bewegung durch meinen Kopf.

Ich rieb mir gegen meine Schläfen und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass die Schmerzen langsam nachließen. Also streckte ich meine Hand aus um das nervige Piepsen endlich auszustellen und stand auf.

Im nächsten Moment kippte ich allerdings wieder auf mein Bett zurück, da mir schwarz vor Augen wurde und meine Beine eingeknickt waren.

Vorsichtig wagte ich nach einer Weile einen neuen Versuch und richtete mich langsam auf. Mit wackeligen Schritten tapste ich ins Bad und spritzte mir dort erstmal eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, um die noch vorhandenen Schmerzen aus meinem Kopf zu bekommen.

Ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken verriet mir, dass ich eindeutig nicht einer der Personen war, die direkt nach dem Aufstehen aussahen wie Supermodels. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich noch nie so jemanden kennengerlernt, obwohl es bei Lia wohl wenigstens zur Hälfte zutraf. Denn jedes Mal, wenn wir übernachtet hatten und am nächsten Morgen in den Spiegel geblickt hatten, mussten wir eindeutig feststellen, dass Lia, im Gegensatz zu mir, auch mit blasser Haut, verschlafenem Blick und tiefen Augenringen nicht schlecht aussah. Ihre vollen, roten Locken verliehen dem Ganzen noch einen gewissen Teint.

Leicht legte ich den Kopf schief und sah in meine hellen, grünen Augen, die mir im Spiegel entgegensahen. Insgesamt war ich selbst auch keine Hässlichkeit. Meine weichen, blonden, leicht welligen Haare fielen mir sanft über die Schultern. Meine schmale Nase, die mit Sommersprossen übersäht war, stach nicht besonders hervor und betonte meine weichen Wangen.

Viele sagten ich kam nach meiner Mutter, die mir sehr glich, im Gegensatz zu meinem Vater der mir mit den braunen Haaren und den grauen Augen gar nicht ähnlich sah. Von ihm hatte Sebastian die große, muskulöse Körperform, während ich mich voll und ganz an meine Mutter hielt und genau wie sie eher zierlich und klein war. Doch so viel ich auch von dem Aussehern geerbt hatte, so war unser Charakter komplett unterschiedlich. Wie sie es mir nur immer wieder zu deutlich machte, war ich in diesem Fall meiner Großmutter sehr ähnlich. Sie war, vor ihrem Tod, einer der herzensgutsten Menschen gewesen die ich kannte und hatte, selbst nachdem ihr Mann – mein Großvater – sie verlassen hatte, ihr Lächeln nicht verloren. Sie war diejenige gewesen, die immer für mich da war und oft auf mich aufgepasst hatte. Ich war eine der Wenigen, die sie überhaupt noch besucht haben. Meine Mutter und sie waren noch vor ihrem Tod lange zerstritten gewesen, obwohl sie sich so sehr danach gesehnt hatte sie ein letztes Mal in die Arme schließen zu dürfen, doch nie konnte ihr Wunsch erfüllt werden. Denn an dem darauffolgenden Tag hatten sie und Mum sich zu einem Treffen verabredet, zu dem es niemals gekommen war. Manchmal fragte ich mich ob meine Mutter es bereute nie mit ihr Frieden geschlossen zu haben, aber sie zeigte nicht die geringsten Zeichen dazu. Auch heute noch war ich die Einzige aus meiner Familie, die ihr Grab besuchte. Und manchmal in wenigen Momenten, in denen ich mich schmerzhaft nach ihr sehne, nach ihrem Rat und ihrer Nähe, kann ich ihren sanften Geruch nach Veilchen wahrnehmen.

Überwältigt von den Erinnerungen, ihrem Lachen, ihrem Gesicht krallte ich mich haltsuchend an dem Waschbecken fest, bis der Schwindel verschwand und meine Beine sich wieder selbst halten konnten. Was war nur heute mich mir los?

Als ich schließlich die Treppe hinunter in die Küche ging, um mir mein heißgeliebtes Toastbrot zu machen, kam Sebastian mir entgegen und wünschte mir einen guten Morgen, bevor er stehen blieb und mich kritisch musterte.

„Alles klar bei dir? Du bist unnatürlich bleich."

Wie auf Kommando überkam mich eine Welle Übelkeit und ich presste mir meine Hand auf den Mund, während ich mich mit der anderen verzweifelt am Geländer festklammerte. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, während meine Beine zitternd unter mir zu nachgeben drohten.

„Lucy, oh mein Gott geht's dir gut? Willst du heute nicht lieber zu Hause bleiben?" ertönte die leicht panische Stimme meines Bruders.

Schnell schüttelte ich den Kopf, ging leicht immer noch schwankend an ihm vorbei und versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Die hämmernden Kopfschmerzen machten das nicht sehr einfach und auch meine zitternden Beine verhinderten, dass ich einen Fuß vor den anderen setzte.

Plötzlich wurde ich am Arm gepackt, ruckartig umgedreht und sah in zwei verschwommene, grüne Augenpaare, die meinen so ähnlich waren. Schlagartig war der Schwindel verschwunden und ich konnte wieder klar sehen. Kurz blinzelte ich und blickte dann in Sebastians besorgtes Gesicht. Immer noch hielt er meinen Arm fest in seinem Griff und ich riss mich schroff los.

„Was war das gerade, Lucy?", fragte er mit warnendem Unterton. Leicht genervt sah ich ihn an und legte den Kopf schief. „Mir war nur kurz ein bisschen Schwindelig."

„Ein bisschen Schwindelig? Danach sah es aber nicht aus. Du bist fast umgekippt", rief er aufgebracht. Er machte sich immer viel zu große Sorgen.

„Du übertreibst. Können wir nun endlich in die Schule fahren oder willst du noch weiter rummeckern?" Der Appetit war mir inzwischen vergangen und ohne eine Antwort abzuwarten schritt ich an ihm vorbei um meine Tasche aus dem Zimmer zu holen.

Die Fahrt auf dem Motorrad verlief schweigend und ich genoss den kühlen Wind der mir ins Gesicht wehte. An der Schule stand auch schon Lia und wartete. Nach einer kurzen Verabschiedung ging ich zu ihr und zusammen überbrückten wir die Zeit bis zum Unterricht. Da wir aber in den ersten beiden Stunden unterschiedliche Kurse hatten, trennten sich unsere Wege kurz vor Unterrichtsbeginn.

Zu meinem Leidwesen stellte ich kurzdarauf fest, dass Jason den gleichen Kurs wie ich besuchte und setzte mich so weit wie möglich von ihm weg. Doch während ich in der Stunde aus dem Fenster blickte, spürte ich immer wieder diese stechenden Blicke in meinem Rücken. Schnell versuchte ich mich abzulenken und dem Lehrer bei seinem langweiligen Gespräch, das man wahrscheinlich eher als Monolog bezeichnen sollte, zuzuhören.

Leider bemerkte ich schon nach kurzer Zeit, dass es auch ein Monolog bleiben würde, da ich keinen Plan hatte worum es darin ging und ganz sicher nicht die Absicht hatte irgendetwas dazu beizutragen.

Immer noch bemerkte ich wie Jason mich mit seinen Blicken durchbohrte, als würde er mir Messer in den Rücken rammen wollen. Langsam reichte es mir und kurzerhand drehte ich mich einfach zu ihm um und warf ihm einen hör-auf-mich-die-ganze-Zeit-anzustarren-sonst-wünscht-du-dir-nie-geboren-worden-zu-sein. Zu meiner Zufriedenheit drehte er sich daraufhin dem Lehrer zu und ließ mich den Rest der Stunde in Ruhe.

Als es endlich zum Stundenende klingelte, hatte ich schon meine ganzen Sachen eingepackt und war bereit loszustürmen, um so schnell wie nur möglich von hier weg und zu Lia zu kommen.

Doch sobald ich auch nur einen Schritt gemacht hatte, überkam mich wieder diese Übelkeit und mir verschwamm meine Sicht vor Augen. Schwankend versuchte ich nach irgendetwas zu greifen und mir die schwärze von den Augen zu blinzeln, doch meine Hand verfehlte den Tisch. Meine bebenden Beine brachen zusammen und alles wurde zäh und nebelig. Das Letzte, was ich spürte, bevor mir meine Sinne vollständig schwanden, warenzwei starke Arme, die mich umschlossen und mir Wärme spendeten.

Verschwunden und VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt