Kapitel 9

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Lucia hatte auch einige Seile auf dem Dachboden gefunden, welche sie zu einem Art Seilzug verarbeitet hat. Sie holte ihre Konstruktion unter ihrem Bett hervor und ging zu ihrem Fenster. „Das geht zum Vorgarten heraus", erklärte sie. „Wir binden einen der Farbtöpfe hier drinnen fest und lassen ihn dann nach unten. Am besten wäre, wenn du bereits unten stehst und sie dann auch entgegennimmst."

„Ich?", fragte Bruno. „Ich glaube, es macht mehr Sinn, wenn du gehst und ich in meinem Zimmer bleibe, als andersherum", meinte Lucia. Bruno konnte dagegen nichts einwenden. Also ging Bruno wieder aus ihrem Zimmer heraus, die Treppe runter und wollte gerade zur Haustür gehen, als Adella ihn zurückrief: „Bruno? Du gehst schon?"

„Lucia und ich wollen etwas spazieren gehen, aber sie muss sich noch umziehen", log Bruno. Er hoffte, dass es Adella nicht auffiel, denn normalerweise konnte man seine Lügen sehr schnell durchschauen. Er war ein schlechter Lügner, weswegen er den Bewohnern Encantos auch immer die Wahrheit sagte, anstelle ihre Zukunft etwas zu verschönern. Er vermied dabei automatisch Augenkontakt und starrte zu seinen Füßen oder seine Ohren und Wangen wurden rot.
Heute hatte er nicht zum Boden gesehen, dafür zwar zum Fenster hinter Adella raus, aber es war ein Fortschritt. Ob sein Gesicht rot wurde, konnte er nicht sagen, doch Adella fiel das nicht auf. Sie lächelte. „Es freut mich wirklich, dass ihr euch so gut versteht", mehr sagte sie nicht, aber ihr Blick sagte alles.

Bruno nickte gezwungen lächelnd und ging dann heraus.

Draußen schlich er sich um den Vorgarten herum. Er wollte nicht riskieren, dass Adella ihn durch einen dummen Zufall sah und dann Verdacht zu schöpfen begann. Vorsichtig lugte er hoch, um zu gucken, ob er Adella sehen konnte, was nicht der Fall war. Er stand wieder auf und nahm einen großen Schritt über den Rosen und sprang dann zur Hauswand. Allerdings blieb er mit seinem Poncho an den Rosendornen hängen und fiel zurück, was ziemlich schmerzhaft war. Er spürte, wie sich sein Poncho in den Dornen bohrte und somit auch in seine Haut. „Aua", murmelte er und verzog das Gesicht.

„Bruno!", zischte jemand besorgt.

Bruno sah sich verwirrt um. Er hoffte, dass er es sich eingebildet hatte, denn er wollte nicht unbedingt, dass jemand das mit angesehen hatte. Er sah niemanden. Zum Glück.

„Hier oben, Bruno!", er sah dieses Mal hoch; Lucia hatte ihren Kopf aus ihrem Fenster gestreckt und sah ihn mit verzogenem Gesicht an. „Geht es dir gut?", fragte sie. „Tut es weh?"

Es tat höllisch weh, aber Bruno wollte das nicht zugeben. „Geht schon", meinte er deshalb und stand auf. Er hätte gerne geschrien. Die Dornen hatten sich teils in seiner Haut verfangen und wollten nicht abfallen. Er versuchte einen aus seinem Unterarm zu entfernen, was er auch schaffte, allerdings nur unter brennenden Augen und auf der Lippe beißend. Er warf den Dorn weg. Er blutete ein wenig dort, wo er ihn rausgezogen hatte.

„Ist egal", rief er leise zu Lucia hoch. „Lass die Eimer runter, oder ich habe umsonst mein Leben riskiert."

Lucia schüttelte grinsend den Kopf und verschwand kurzzeitig. Dann tauchte der erste Farbeimer auf und sie ließ ihn langsam runter. Der Eimer schwankte bedrohlich hin und her und Bruno hatte kurz Angst, dass er sein Poncho heute vielleicht umgefärbt werden würde, aber dann lag der Eimer auch schon sicher in Brunos Armen. „Hast du ihn?", fragte Lucia. „", Bruno hielt einen Daumen nach oben. Und dann folgte auch schon der zweite Eimer, der genauso sicher bei Bruno landete.

„Ich komme sofort runter", Lucia hatte ihren Kopf nochmal rausgestreckt. „Ich muss nur kurz das Seil verstecken."

Während Lucia sich auf den Weg nach draußen machte, trug Bruno die Eimer vom Vorgarten auf die Straße, wobei er einen großen Bogen um die Rosen machte. Misslicher Weise stellte er fest, dass einige Rosen zu Boden gedrückt waren. Sie hinterließen einen mehr oder weniger genauen Abdruck seines Hinterns. Bruno seufzte. Wenn Adella das sah, dann würde sie sofort ihre Pläne wegschmeißen, dachte sich Bruno, was ja gut war – oder?

Ich sehe dich, BrunoWhere stories live. Discover now